In diesem Punkt hatte Rakel einen fundamentalen Fehler gemacht. Sie war in der großen Holzvilla in Besserud aufgewachsen und hatte früh gelernt, welche Manöver im Leben nötig waren, sie war klug und attraktiv genug, um all ihre Ziele zu erreichen, hatte sich aber trotzdem für einen alkoholabhängigen Mordermittler mit Niedriglohn entschieden, der – zurzeit nüchtern – für ein noch geringeres Gehalt an der Polizeihochschule unterrichtete.
»Sie sollten aufhören zu rauchen«, sagte Frau Syvertsen und musterte ihn von oben bis unten. »Sonst habe ich eigentlich nichts auszusetzen. Wo trainieren Sie?«
»Im Keller«, sagte Harry.
»Sie haben sich einen eigenen Fitnessraum einrichten lassen? Wer ist Ihr PT?«
»Ich«, sagte Harry, nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und betrachtete sein Spiegelbild im Fenster der Rücksitze. Schlank, aber nicht mehr so mager wie noch vor ein paar Jahren. Drei Kilo mehr Muskelmasse. Zwei Kilo angenehmere Tage. Und ein gesünderes Leben. Aber das Gesicht, das ihn aus dem Fenster ansah, belegte, dass es nicht immer so gewesen war. Das Delta der dünnen roten Adern in den Augenwinkeln und dicht unter seiner Haut erzählte von einer Vergangenheit, geprägt von Alkohol, Chaos, Schlaflosigkeit und schlechten Gewohnheiten. Die Narbe, die vom Ohr zum Mundwinkel verlief, erzählte von dramatischen Situationen und mangelnder Impulskontrolle. Und die Tatsache, dass er die Zigarette zwischen Zeigefinger und Ehering am Ringfinger hielt, weil ihm der Mittelfinger fehlte, belegte, dass Mord und Totschlag Spuren in Fleisch und Blut hinterließen.
Sein Blick fiel auf die Zeitung. Das Wort »Mord« lief quer über die Titelseite. Und für einen Augenblick war das Echo des Schreis wieder zu hören.
»Ich habe auch schon darüber nachgedacht, mir einen Fitnessraum einzurichten«, sagte Frau Syvertsen. »Können Sie nächste Woche nicht mal vormittags vorbeikommen und mir ein paar Tips geben?«
»Eine Matte, ein paar Hanteln und eine Reckstange«, sagte Harry. »Andere Tips kann ich Ihnen nicht geben.«
Frau Syvertsen lächelte breit und nickte vielsagend. »Einen schönen Tag noch, Harry.«
Der Tesla rollte lautlos davon, und er ging zurück Richtung Haus. Er blieb im Schatten der großen Fichten stehen und sah es sich an. Ein solider Bau. Nicht uneinnehmbar, nichts war uneinnehmbar, aber hier bräuchte es schon einiges. Die dicke Eichentür hatte drei Schlösser, und alle Fenster waren vergittert. Herr Syvertsen hatte sich beklagt und gemeint, das fortähnliche Bollwerk erinnere ihn an Johannesburg und drücke die Preise, weil es das Viertel so gefährlich wirken ließe. Rakels Vater hatte die Gitter nach dem Krieg anbringen lassen. Harrys Ermittlerjob hatte Rakel und ihren Sohn Oleg zwischenzeitlich in Gefahr gebracht. Oleg war inzwischen erwachsen. Er war mit seiner Freundin zusammengezogen und hatte auf der Polizeihochschule angefangen. Rakel sollte selber entscheiden, wann die Gitter wieder wegkamen, denn die brauchten sie nicht mehr. Harry war jetzt nur noch ein unterbezahlter Lehrer.
»Ah, Frühstück im Bett«, murmelte Rakel lächelnd, gähnte betont laut und richtete sich auf.
Harry stellte das Tablett vor sie auf die Decke.
»Frühstück im Bett« war das Synonym für die morgendliche Extrastunde, die sie sich jeden Freitagmorgen gönnten, weil er erst spät in die Hochschule und sie nicht ins Außenministerium musste, wo sie als Juristin arbeitete.
Er kroch zu ihr unter die Decke und gab ihr wie gewöhnlich den Teil der Aftenposten mit der Innenpolitik und dem Sportteil, während er die Außenpolitik und die Kulturnachrichten las. Er setzte die Lesebrille auf, an die er sich mittlerweile gewöhnt hatte, und las als Erstes die Kritik des neuen Albums von Sufjan Stevens, wobei ihm einfiel, dass Oleg ihn in der folgenden Woche zu einem Konzert von Sleater-Kinney eingeladen hatte. Leicht nerviger, neurotischer Rock, wie Harry ihn mochte. Oleg hörte selber härtere Sachen, weshalb Harry sich umso mehr über die Einladung freute.
»Was Neues?«, fragte Harry und blätterte um.
Er wusste, dass sie den Artikel über den Mord gelesen hatte, der auf der Titelseite prangte, aber auch, dass sie ihm davon nichts sagen würde. Das war eine ihrer stillen Vereinbarungen.
»Mehr als dreißig Prozent der amerikanischen Tinder-Nutzer sind verheiratet«, sagte sie. »Aber Tinder will davon nichts wissen. Und bei dir?«
»Die neue Father-John-Misty-Scheibe scheint hinter den Erwartungen zurückzubleiben. Oder der Kritiker wird alt und miesepetrig. Ich tippe eigentlich auf Letzteres. In der Mojo und im Uncut wurde sie in den höchsten Tönen gelobt.«
»Harry?«
»Mir sind junge, miesepetrige Kritiker lieber, die werden mit dem Alter vielleicht aufgeschlossener. Wie ich. Nicht wahr?«
»Wärst du eifersüchtig, wenn ich bei Tinder wäre?«
»Nein.«
»Nein?« Sie richtete sich etwas weiter auf. »Warum nicht?«
»Mir fehlt vermutlich die Phantasie. Ich bin dumm und glaube, dass ich mehr als genug für dich bin. Es ist nicht so dumm, dumm zu sein, weißt du?«
Sie seufzte. »Bist du denn nie eifersüchtig?«
Harry blätterte um. »Doch, aber Ståle Aune hat mir gerade erst eine Reihe von Gründen genannt, warum es besser ist, solchen Gefühlen möglichst wenig Raum zu geben, Liebste. Er kommt heute vorbei und hält einen Gastvortrag über morbide Eifersucht.«
»Harry?« Er hörte dem Unterton in ihrer Stimme an, dass sie nicht so schnell aufgeben würde.
»Fang deine Sätze bitte nicht immer mit meinem Namen an, du weißt doch, wie nervös mich das macht.«
»Aus gutem Grund, ich wollte dich nämlich gerade fragen, ob du manchmal Lust auf andere Frauen als mich hast?«
»Wolltest du fragen, oder fragst du?«
»Ich frage.«
»Okay.« Sein Blick blieb an einem Foto von Polizeipräsident Mikael Bellman und seiner Frau auf einer Filmpremiere hängen. Die schwarze Augenklappe, die er seit neuestem trug, stand ihm, und Harry wusste, dass Bellman das wusste. Der junge Polizeipräsident erklärte in dem dazugehörigen Artikel, dass die Medien und allen voran die Kriminalfilme wie der, den er gerade gesehen hatte, ein falsches Bild von Oslo zeichneten. Er betonte, dass die Stadt unter seiner Führung so friedlich sei wie niemals zuvor. Die Wahrscheinlichkeit, dass man Selbstmord beging, sei viel höher als die, ermordet zu werden.
»Also«, sagte Rakel und rückte näher an ihn heran. »Hast du Lust auf andere?«
»Ja«, sagte Harry und unterdrückte ein Gähnen.
»Oft?«, fragte sie.
Er nahm den Blick von der Zeitung. Zog die Stirn in Falten, starrte vor sich hin und dachte über die Frage nach. »Nein, nicht oft.« Er richtete seinen Blick wieder auf die Zeitung. Das neue Munch-Museum und die Deichmansche Bibliothek neben dem neuen Opernhaus nahmen langsam Form an. Die Hauptstadt der Fischer und Bauern, die zweihundert Jahre lang alle Abweichler mit künstlerischen Ambitionen, von denen sie sich bedroht fühlte, nach Kopenhagen und Europa geschickt hatte, war auf dem besten Weg, Kulturstadt zu werden. Wer hätte das geglaubt? Oder besser: Wer glaubte das?