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»Der Termin ist erst heute«, sagte Harry. »Ihr Vater hatte im ­Alter Migräne.«

»Erblich vorbelastet. Als würde man sich die Zukunft vorhersagen lassen und es dann sein ganzes Leben bereuen. Wir Menschen haben das Unabwendbare noch nie gemocht. Wie den Tod.«

»Erbe ist nicht unabwendbar. Großvater hat gesagt, dass er wie sein Vater nach dem ersten Drink Alkoholiker war. Während mein Vater sein Leben lang Alkohol genossen hat – wirklich genossen –, ohne Alkoholiker zu werden.«

»Dann hat der Alkoholismus eine Generation übersprungen, das kommt vor.«

»Oder die Genetik ist nur eine willkommene Entschuldigung für meinen schwachen Charakter.«

»Ja, aber es muss auch erlaubt sein, die Genetik für den eigenen schwachen Charakter an den Pranger zu stellen.«

Harry lächelte, und eine Studierende, die ihnen auf dem Flur entgegenkam, missverstand ihn und erwiderte das Lächeln.

»Katrine hat mir die Bilder vom Tatort in Grünerløkka geschickt«, sagte Aune. »Was hältst du davon?«

»Ich lese keine Kriminalberichte.«

Die Tür des Hörsaals zwei stand offen. Die Vorlesung richtete sich an die Studierenden des letzten Semesters, aber Oleg hatte gesagt, dass er und ein paar Erstsemesterkollegen versuchen wollten, sich auch hineinzuschmuggeln. Entsprechend voll war der Hörsaal. Einige Studierende saßen auf der Treppe oder lehnten an den Wänden, und Harry erkannte sogar die Gesichter einiger Kollegen.

Er trat an das Pult und schaltete das Mikrofon ein. Ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Suchte automatisch nach Oleg. Die Gespräche verstummten, und es wurde still. Harry befeuchtete sich die Lippen. Das Seltsame war nicht, dass er Lehrer geworden war, sondern dass es ihm auch noch gefiel. Dass er, der als wortkarg und verschlossen galt, sich vor einer Gruppe anspruchsvoller Studierender ungehemmter fühlte als an der Kasse eines 7-Eleven, wenn er das Päckchen Camel Light, das man ihm fälschlicherweise hingelegt hatte, gegen ein Päckchen Camel umtauschen wollte. In diesen Momenten glaubte er immer, das Gemurmel der Leute hinter sich zu hören, und es war tatsächlich schon vorgekommen – an schlechten Tagen mit dünnem Nervenkostüm –, dass er mit den Camel Light aus dem ­Laden gegangen war, eine Zigarette geraucht und den Rest weggeworfen hatte. Hier im Hörsaal befand er sich in seiner Komfortzone. Fachwissen. Mord. Harry räusperte sich. Er hatte Olegs ernstes Gesicht nicht entdeckt, dafür aber ein anderes, das er gut kannte. Eins mit schwarzer Augenklappe. »Wie ich sehe, haben sich einige von Ihnen im Hörsaal vertan. Das hier ist der Kurs drei ›Mordermittlung‹ für Studierende im letzten Semester.«

Gelächter. Niemand machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

»Okay«, sagte Harry. »All jene, die hier sind, um eine von meinen trockenen Vorlesungen über Mordermittlungen zu hören, muss ich enttäuschen. Unser heutiger Gast ist seit vielen Jahren Berater des Dezernats für Gewaltverbrechen und einer der bekanntesten Psychologen Skandinaviens im Fachgebiet Gewalt und Mord. Seine Publikationsliste ist lang. Aber bevor ich Ståle Aune das Wort erteile, das kriege ich dann nämlich nicht mehr wieder, möchte ich noch darauf hinweisen, dass es nächsten Mittwoch um ein weiteres Kreuzverhör geht, bezogen auf einen Fall, der als Das fünfte Zeichen bekannt ist. Die Details zu dem Fall, Tatortberichte und Verhörprotokolle finden Sie wie üblich auf der Website PHS/Ermittlung. Ståle?«

Applaus brandete auf. Harry ging die Treppe nach unten, während Aune mit vorgestrecktem Bauch und einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen zum Pult schritt.

»Das Othello-Syndrom!«, rief Aune und senkte seine Stimme, als er das Mikrofon erreichte: »Das Othello-Syndrom ist ein Fachausdruck für das, was wir als morbide Eifersucht bezeichnen. Das Motiv für die meisten Morde in diesem Land. Genau wie in William Shakespeares Tragödie Othello. Roderigo ist verliebt in General Othellos junge Frau Desdemona, während der gerissene Offizier Jago Othello hasst, weil dieser ihn nicht zum Leutnant befördert hat. Jago glaubt, doch noch Karriere machen zu können, wenn Othello erst einmal weg ist, weshalb er Roderigo hilft, einen Keil zwischen Othello und dessen junge Frau zu treiben. Jago tut das, indem er Othellos Hirn und Herz mit einem Virus infiziert, einem ebenso tödlichen wie resistenten Virus, den es in vielen Spielarten gibt. Eifersucht. Othello wird krank, die Eifersucht löst epileptische Anfälle bei ihm aus, er liegt von Krämpfen geschüttelt auf der Bühne. Schließlich tötet Othello seine Frau und am Ende des Stückes sich selbst.« Aune zupfte an den Ärmeln seiner Tweedjacke. »Ich erzähle Ihnen das alles nicht, weil Shakespeare Prüfungsstoff ist, sondern weil ein bisschen Allgemeinbildung nicht schaden kann.« Gelächter. »Also was – meine nicht eifersüchtigen Damen und Herren – ist das Othello-Syndrom?«

»Was verschafft mir die Ehre des hohen Besuchs?«, flüsterte Harry Hole. Er hatte sich am hinteren Rand des Hörsaals neben Mikael Bellman gestellt. »Interessiert an Eifersucht?«

»Nein«, sagte Bellman. »Ich möchte, dass Sie die Ermittlungen in dem aktuellen Mordfall übernehmen.«

»Ich fürchte, Sie haben sich die Mühe umsonst gemacht.«

»Ich will, dass Sie so vorgehen, wie Sie das schon früher gemacht haben. Sie sollen eine kleine Gruppe leiten, die parallel und unabhängig von der großen Ermittlergruppe arbeitet.«

»Danke, Herr Polizeipräsident, aber meine Antwort lautet nein.«

»Wir brauchen Sie, Harry.«

»Ja. Hier.«

Bellman lachte kurz. »Ich zweifle nicht daran, dass Sie ein guter Dozent sind, aber hier sind Sie ersetzbar. Anders als Ermittler.«

»Ich bin fertig mit Mord.«

Mikael Bellman schüttelte lächelnd den Kopf. »Kommen Sie, Harry. Wie lange, glauben Sie, können Sie sich hier verstecken und so tun, als ob Sie ein anderer wären? Sie sind kein Vegetarier wie der da vorne, Harry. Sie sind ein Raubtier, genau wie ich.«

»Meine Antwort lautet nein.«

»Und Raubtiere haben bekanntlich scharfe Zähne, weshalb sie auf der obersten Stufe der Nahrungskette stehen. Da vorne sehe ich Oleg sitzen. Wer hätte gedacht, dass er einmal auf der Polizeihochschule anfangen würde.«

Harrys Nackenhaare stellten sich warnend auf. »Ich führe das Leben, das ich führen will, Bellman. Ich kann nicht zurück, meine Antwort ist endgültig.«

»Besonders wenn man bedenkt, dass es für eine Aufnahme entscheidend ist, keine Vorstrafen zu haben.«

Harry antwortete nicht. Aune erntete erneut Lacher, und Bellman lachte mit. Dann legte er eine Hand auf Harrys Schulter, beugte sich zu ihm vor und senkte die Stimme noch weiter: »Auch wenn das jetzt ein paar Jahre her ist, ich habe noch immer Kontakte, die jederzeit bezeugen würden, dass Oleg damals Heroin gekauft hat. Strafrahmen zwei Jahre. Er würde dafür kaum noch ins Gefängnis müssen, aber Polizist wird man damit nicht.«

Harry schüttelte den Kopf. »So etwas würden nicht einmal Sie tun, Bellman.«

Bellman gluckste leise. »Nicht? Mag sein, dass es Ihnen so vorkommt, als würde ich zu große Geschütze auffahren, aber es ist wirklich wichtig für mich, dass dieser Fall gelöst wird.«

»Aber welchen Vorteil hätten Sie, wenn das Leben meiner Familie zerstört wird, weil ich ablehne?«

»Wohl keinen, aber vergessen wir nicht, dass ich – wie war noch gleich das Wort dafür? – Sie hasse

Harry starrte auf die Rücken vor sich. »Sie sind kein Mann, der sich von Gefühlen leiten lässt, Bellman. Das ist nicht Ihr Ding. Wie wollen Sie begründen, dass Sie diese wichtige Information über den Polizeischüler Oleg Fauke so lange zurückgehalten haben? Es ist keine gute Idee zu bluffen, wenn der Gegner weiß, wie schlecht Ihre Karten sind.«

»Wenn Sie die Zukunft des Jungen darauf verwetten wollen, dass ich bluffe, dann nur zu, Harry. Nur dieser eine Fall. Lösen Sie ihn für mich, und die Sache ist ein für alle Mal aus der Welt. Ich brauche Ihre Antwort bis heute Nachmittag.«