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Katrine nickte. Draußen schien die Sonne, trotzdem glaubte sie weit entfernt Donner zu hören.

»Die Tatortfotos von Elise Hermansen«, sagte Harry. »Musstest du da nicht an etwas Bestimmtes denken?«

»Die Bisswunde im Hals, nein.«

»Ich meine nicht die Details, ich meine …« Harry sah aus dem Fenster. »Das Ganze. Wie wenn du Musik hörst, die du noch nie gehört hast, gespielt von einer Band, die du nicht kennst, und trotzdem hörst du, wer das Lied geschrieben hat. Weil da etwas ist. Aber etwas, das du nicht greifen kannst.«

Katrine betrachtete einen Moment lang Harrys Profil. Die kurzgeschnittenen blonden Haare standen trotzig ab, es waren vielleicht nicht mehr ganz so viele wie früher. Das Gesicht wurde immer markanter, Geheimratsecken und Falten prägten sich immer stärker aus, und selbst die Lachfalten um die Augen konnten diesen Eindruck nicht mehr abmildern. Sie hatte eigentlich nie verstanden, warum sie ihn so unglaublich schön fand.

»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

»Okay.«

»Harry?«

»Hm?«

»Du bist wirklich wegen Oleg wieder da?«

Er sah sie an, eine Augenbraue hochgezogen. »Warum fragst du das?«

Es war genau wie früher. Sein Blick traf sie wie ein elektrischer Schlag. Wie konnte er, der so abwesend, so distanziert wirkte, von nur einer Sekunde auf die andere alles wegschieben und voll und ganz die Aufmerksamkeit seines Gegenübers einfordern … und bekommen? Als gäbe es in dieser Sekunde niemanden sonst auf der ganzen Welt.

»Tja«, sagte sie und lachte kurz. »Warum frage ich das? Komm, brechen wir auf.«

»Ewa mit w. Mama und Papa wollten, dass ich etwas ganz Besonderes bin. Aber dann zeigte sich, dass das in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang ein ganz üblicher Name war.« Sie lachte und nahm einen Schluck aus ihrem Halbliterglas. Öffnete den Mund und wischte mit dem Zeigefinger etwas Lippenstift aus ihrem Mundwinkel.

»Eiserner Vorhang und Ostblock«, sagte der Mann.

»Was?« Sie sah ihn an. Er sah eigentlich ganz gut aus. Auf jeden Fall besser als die, bei denen sie sonst ein Match bekam. Bestimmt hatte er irgendeine andere Macke, etwas, das sich wie schon so oft erst später bemerkbar machte. »Du trinkst langsam«, sagte sie.

»Und du magst Rot.« Der Mann nickte in Richtung des Umhangs, den sie über den Stuhl gelegt hatte.

»Wie dieser Vampir«, sagte Ewa und sah zu dem riesigen Fernsehbildschirm. Das Fußballspiel war vorbei, und die Kneipe, die fünf Minuten zuvor noch voll gewesen war, leerte sich langsam. Sie merkte, dass sie etwas angetrunken war. »Hast du die VG gelesen? Er hat tatsächlich ihr Blut getrunken! Kannst du dir so was vorstellen?«

»Ja«, sagte der Mann. »Weißt du, wo sie ihren letzten Drink genommen hat? Nur hundert Meter die Straße runter, in der Jealousy Bar

»Wirklich?« Sie sah sich um. Die meisten Gäste schienen in irgendwelchen Gruppen unterwegs zu sein. Ein Mann war ihr allerdings aufgefallen. Er hatte allein in einer Ecke gesessen und sie beobachtet. Jetzt war er weg. Der Schleicher war das aber nicht gewesen.

»Ja, wirklich. Noch einen Drink?«

»Ja, den brauche ich jetzt«, sagte sie mit einem Schaudern. »Puh.«

Sie gab dem Barkeeper ein Zeichen, der den Kopf schüttelte. Der Minutenzeiger hatte die magische Grenze passiert.

»Sieht aus, als müssten wir den auf ein anderes Mal verschieben«, sagte der Mann.

»Ausgerechnet jetzt, wo du mir solche Angst gemacht hast«, sagte Ewa. »Dafür musst du mich nach Hause bringen.«

»Natürlich«, sagte der Mann. »Tøyen, oder?«

»Komm«, sagte sie und legte sich den roten Umhang über die rote Bluse. Draußen auf dem Bürgersteig schwankte sie kurz und hielt sich an ihm fest.

»Ich hatte mal so einen Stalker«, sagte sie. »Den habe ich Schleicher genannt. Ich habe ihn einmal getroffen und … Ja, wir hatten unseren Spaß. Aber als ich nicht mehr wollte, wurde er ­eifersüchtig und tauchte immer wieder auf, wenn ich unterwegs war und jemanden getroffen habe.«

»Wie unangenehm.«

»Und wie.« Sie lachte. »Natürlich ist es irgendwie auch eine Bestätigung, wenn man jemanden so verhexen kann, dass er nur noch an einen denkt.« Sie hustete.

Der Mann ließ sie bei sich einhaken und hörte höflich zu, während sie ihm von den anderen Männern erzählte, die sie verhext hatte.

»Weißt du, ich war mal richtig schön. Anfangs war ich deshalb gar nicht so überrascht, dass er überall auftauchte. Aber dann wurde mir irgendwann klar, dass er ja unmöglich wissen konnte, wohin ich abends gehen wollte. Und weißt du was?« Sie blieb abrupt stehen und schwankte wieder.

»Äh, nein.«

»Manchmal hatte ich das Gefühl, er wäre in meiner Wohnung gewesen. Das Gehirn registriert den Geruch von Menschen, es erkennt Gerüche ganz unbewusst.«

»Aha.«

»Stell dir mal vor, vielleicht war der ja der Vampir!«

»Das wäre aber schon ein echt großer Zufall. Wohnst du hier?«

Sie sah überrascht an der Fassade hoch, die vor ihr aufragte. »Ja, genau. Das ging aber schnell.«

»Du weißt ja, Ewa, in guter Gesellschaft vergeht die Zeit wie im Flug. Dann bleibt mir wohl nur noch, mich …«

»Willst du nicht noch mit hochkommen? Ich habe bestimmt noch eine Flasche da.«

»Ich glaube, wir haben beide genug …«

»Nur um sicherzugehen, dass er nicht da ist. Bitte.«

»Das ist doch wirklich unwahrscheinlich.«

»Guck mal, da brennt Licht in der Küche«, sagte sie und zeigte auf ein Fenster in der untersten Etage. »Ich bin mir sicher, dass ich es ausgemacht habe, bevor ich gegangen bin.«

»Bist du?«, sagte der Mann und unterdrückte ein Gähnen.

»Glaubst du mir nicht?«

»Du, tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich nach Hause und ins Bett.«

Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Wo sind nur die wahren Gentlemen geblieben?«

Er lächelte vorsichtig. »Die … äh, sind vielleicht schon nach Hause gegangen und im Bett?«

»Ha! Du bist verheiratet und kriegst jetzt kalte Füße, was?«

Der Mann musterte sie. Als täte sie ihm leid.

»Ja«, sagte er. »So ist es. Schlaf gut.«

Sie schloss die Haustür auf und ging die wenigen Stufen zu ihrer Wohnung hoch. Lauschte. Sie hörte nichts. Sie hatte keine Ahnung mehr, ob sie das Licht in der Küche angelassen hatte, um ihn in die Wohnung zu locken. Aber nachdem sie ausgesprochen hatte, dass sie es definitiv ausgemacht hatte, sah sie plötzlich Gespenster. Vielleicht war der Schleicher wirklich in ihrer Wohnung.

Sie hörte schlurfende Schritte hinter der Kellertür, dann wurde die Tür geöffnet, und ein Mann in Wachmannuniform trat in den Flur. Er schloss die Tür mit einem weißen Schlüssel wieder ab, drehte sich um und zuckte zusammen, als er sie sah.

»Ich habe Sie nicht gehört«, sagte er. »Tut mir leid.«

»Probleme?«

»In letzter Zeit sind die Verschläge im Keller mehrmals aufgebrochen worden, deshalb hat die Hausverwaltung uns gebeten, da ab und zu einmal nachzusehen.«

»Dann arbeiten Sie für uns?« Ewa legte den Kopf schief. Er sah auch nicht schlecht aus. Nicht ganz so jung wie die meisten Wachmänner, aber immerhin.

»Darf ich Sie vielleicht bitten, einen Blick in meine Wohnung zu werfen? Wissen Sie, bei mir ist auch schon mal eingebrochen worden. Und grad hab ich gesehen, dass da Licht brennt, wo ich sicher bin, dass ich es ausgemacht habe …«

Der Wachmann zuckte mit den Schultern. »Es gehört nicht zu unseren Aufgaben, Wohnungen zu kontrollieren, aber das ist ­sicher okay.«

»Endlich ein Mann, der zu etwas zu gebrauchen ist«, sagte Ewa und ließ noch einmal ihren Blick über ihn gleiten. Ein erwachsener Wachmann. Bestimmt nicht der Schlaueste, aber solide und verlässlich. Und umgänglich. Der gemeinsame Nenner ihrer früheren Männer war, dass sie alles hatten: einen guten Namen, die Aussicht auf ein solides Erbe, Bildung, Zukunft. Und sie hatten sie vergöttert, dabei aber auch alle so viel getrunken, dass ihre gemeinsame Zukunft irgendwann den Bach runtergegangen war. Es war an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren. Ewa stellte sich ins Profil, beugte sich nach vorne und suchte nach dem Schlüsselbund. Mein Gott, so viele Schlüssel. Vielleicht hatte sie doch etwas mehr getrunken, als sie vertragen konnte.