Выбрать главу

Sie fand den richtigen Schlüssel, öffnete die Tür und ließ die Schuhe an, als sie in die Küche ging. Der Wachmann folgte ihr.

»Niemand da«, sagte er.

»Abgesehen von dir und mir«, sagte Ewa mit einem Lächeln und lehnte sich an die Anrichte.

»Nette Küche.« Der Wachmann stand in der Türöffnung und fuhr sich mit der Hand über die Uniform.

»Danke. Wenn ich gewusst hätte, dass ich heute noch Besuch bekomme, hätte ich aufgeräumt.«

»Und vielleicht abgewaschen«, sagte er und lächelte.

»Ja, ja, der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und versuchte, auf ihren hohen Absätzen das Gleichgewicht zu halten. »Wenn du so nett bist, auch noch die anderen Zimmer zu überprüfen, mixe ich uns einen Cocktail. Einverstanden?« Sie legte eine Hand auf ihren neuen Smoothie-Mixer.

Der Wachmann sah auf die Uhr. »Ich muss in fünfundzwanzig Minuten an der nächsten Adresse sein, aber ich guck trotzdem gerne, ob sich hier irgendwo jemand versteckt.«

»Heutzutage kann ja viel passieren«, sagte sie.

Der Wachmann sah ihr in die Augen, lachte leise, strich sich mit der Hand über das Kinn und ging.

Er ging in Richtung des Zimmers, das er für das Schlafzimmer hielt. Es war so hellhörig in der Wohnung, dass er beinahe verstand, was der Nachbar nebenan sagte. Er öffnete die Tür. Dunkel. Dann schaltete er die sparsame Deckenbeleuchtung ein.

Leer. Das Bett war nicht gemacht. Leere Flasche auf dem Nachtschränkchen.

Er ging weiter. Öffnete die Badezimmertür. Dreckige Fliesen. Der schimmelige Duschvorhang war zugezogen. »Sieht so aus, als wärst du sicher!«, rief er in Richtung Küche.

»Setz dich ins Wohnzimmer«, rief sie zurück.

»Okay, aber ich muss in zwanzig Minuten los.« Er ging ins Wohnzimmer und nahm auf dem durchgesessenen Sofa Platz. Hörte das Klirren von Flaschen, die aneinanderstießen, aus der Küche und ihre schrille Stimme.

»Was willst du trinken?«

Ihre Stimme war wirklich unangenehm. Genau die Art von Stimme, bei der jeder Mann sich wünschte, sie mit einer Fernbedienung ausschalten zu können. Aber sie war üppig. Der mütterliche Typ. Er fingerte an etwas in der Tasche seiner Uniform ­herum, das sich im Futter verhakt hatte.

»Ich habe Gin, Weißwein«, schrillte es aus der Küche. Wie ein Bohrer. »Etwas Whisky. Was magst du?«

»Etwas anderes«, sagte er leise vor sich hin.

»Was hast du gesagt? Ach, ich bring alles mit!«

»Tu das, Mutter«, flüsterte er und schaffte es endlich, den Gegenstand aus dem Futter zu lösen. Er legte ihn vor sich auf den Couchtisch, damit sie ihn gleich sah. Spürte die Erektion kommen und holte tief Luft. Es fühlte sich an, als saugte er allen ­Sauerstoff aus dem Raum. Er lehnte sich im Sofa zurück und legte die Cowboystiefel neben das Eisengebiss auf den Tisch.

Mit müden Augen starrte Katrine Bratt im Licht der Bürolampe auf die Fotos. Es war diesen Menschen nicht anzusehen, dass sie Sexualstraftäter waren. Dass sie Frauen vergewaltigt hatten, Männer, Kinder, Alte. Dass sie sie gequält und manchmal sogar getötet hatten. Okay, wenn man bis ins letzte, grausame Detail wusste, was sie gemacht hatten, erkannte man es vielleicht an ihren devoten, verängstigten Blicken. Aber das waren ja auch ­Polizeifotos. Träfe man sie auf der Straße, würde man einfach so an ihnen vorbeigehen. Ohne die geringste Ahnung, dass man vielleicht gemustert, taxiert und hoffentlich als Opfer ausgeschlossen wurde. Einige Namen kannte sie noch aus ihrer Zeit bei der Sitte, andere waren neu. Es waren viele neue. Jeden Tag wurde ein potentieller Straftäter geboren. Ein unschuldiges kleines Wesen, dessen Schreie von denen der gebärenden Frau übertönt wurden, mit der es noch durch die Nabelschnur verbunden war. Ein Geschenk, das die Eltern vor Glück weinen ließ und das später im Leben eine gefesselte Frau verstümmelte, ihr ein Messer in die Scheide stieß und sich dabei einen runterholte, während sein heiseres Stöhnen von den Schreien der Frau übertönt wurde.

Die halbe Ermittlergruppe hatte damit begonnen, diese Leute zu kontaktieren, die schlimmsten Fälle zuerst. Die Alibis mussten überprüft werden, um sie als Täter ausschließen zu können. Noch war es ihnen nicht gelungen, einen einzigen der vorbestraften Männer in der Nähe des Tatorts zu verorten. Die andere Hälfte der Gruppe befragte frühere Freunde, Geliebte, Kollegen und Verwandte des Opfers. Die Statistik in Norwegen war eindeutig: Bei achtzig Prozent aller Mordfälle kannten Täter und Opfer sich. Mit über neunzig Prozent waren die Zahlen noch klarer, wenn das Opfer weiblich und bei sich zu Hause ermordet worden war. Trotzdem erwartete Katrine nicht, den Täter in diesem Umfeld zu finden, denn Harry hatte recht. Dieser Mord war anders. Die Tat als solche war wichtiger als die Wahl des Opfers. Sie waren die Liste der Sexualstraftäter durchgegangen, gegen die Elises Mandanten ausgesagt hatten, aber Katrine glaubte wie Harry nicht daran, dass der Täter zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen hatte, süße Rache und sexuelle Befriedigung. Befriedigung? Sie versuchte sich vorzustellen, wie der Täter nach der Untat mit dem Opfer im Arm dalag und mit einer Zigarette zwischen den Lippen den Moment genoss. Harry hatte über die sexuelle Frustration von Serienmördern gesprochen. Sie erreichten nie ganz, was sie wollten, und mussten deshalb immer weiter jagen. Damit es beim nächsten Mal klappte, endlich perfekt war, sie Befriedigung erfuhren und zu den Schreien der Frau neu geboren wurden – bevor sie den Lebensfaden abschnitten.

Sie betrachtete noch einmal das Foto von Elise Hermansen auf dem Bett. Fragte sich, was Harry darin gesehen hatte. Oder gehört. Hatte er nicht von Musik gesprochen? Sie gab es auf und stützte das Kinn auf die Hände. Was hatte sie nur glauben lassen, dass sie das psychische Rüstzeug für einen Job wie diesen hatte? »Eine bipolare Störung ist kein guter Ausgangspunkt, ­allenfalls für Künstler«, hatte ihr Psychiater gesagt, als sie das letzte Mal bei ihm gewesen war. Und dann hatte er ihr noch einmal die kleinen rosa Pillen verschrieben, die sie stabil hielten.

Es war Wochenende, normale Menschen machten jetzt normale Dinge und saßen nicht im Büro und starrten auf grausame Tatortfotos und grausame Menschen. Immer in der Hoffnung, irgendetwas in ihren Gesichtern zu erkennen. Um sich im Anschluss ein Tinder-Date zu suchen, das sie ficken und vergessen konnten. Dabei suchte sie im Augenblick wirklich verzweifelt nach der Nabelschnur zur Normalität. Ein Sonntagsessen. Als sie noch zusammen waren, hatte Bjørn sie mehrmals zu seinen Eltern in Skreia eingeladen, zum Essen. Sein Elternhaus war nur anderthalb Stunden entfernt, aber trotzdem hatte sie immer eine Entschuldigung gesucht, um abzulehnen. Jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als an einem Tisch mit einer Schwiegerfamilie zu sitzen, die Kartoffeln weiterzureichen, über das Wetter zu klagen, das neue Sofa zu loben, trockenes Elchfleisch zu kauen und sich an einem stockenden, aber sicheren Gespräch zu beteiligen. Warme, freundliche Blicke, verstaubte Witze und die immer gleichen kleinen Ärgernisse, die sie im Moment nur allzu gerne akzeptiert hätte, ja richtiggehend vermisste.

»Hallo.«

Katrine zuckte zusammen. Ein Mann stand in der Türöffnung.

»Ich habe den Letzten von meiner Liste gerade abgehakt«, sagte Anders Wyller. »Wenn es nicht noch was gibt, würde ich dann jetzt nach Hause gehen und ein bisschen schlafen.«

»Natürlich. Bist du der Letzte?«

»Sieht so aus.«

»Und Berntsen?«

»Der war schon früh fertig und ist gefahren. Arbeitet vermutlich effektiver als ich.«

»Genau«, sagte Katrine und hätte am liebsten gelacht, schaffte es aber nicht. »Tut mir leid, dich das zu bitten, Wyller, aber könntest du seine Liste noch einmal gegenchecken, ich glaube …«