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Sie wich nach hinten zurück, ohne sich umzudrehen, hoffte im Stillen, dass niemand hinter ihr stand.

»Verfluchtscheißeohsorry!« Der seltsame Ausruf, Fluch und Entschuldigung in einem, kam von einer jungen Stimme, achtzehn, vielleicht zwanzig, tippte Elise. Und ganz sicher nicht nüchtern.

»Ey!«, rief der andere. »Du pisst auf meine Schuhe.«

»Ich hab mich erschreckt.«

Elise schlug den Mantel enger um sich und lief eilig an den jungen Männern vorbei, die sich wieder zur Wand gedreht hatten. »Das ist kein Pissoir hier!«, schimpfte sie.

»Sorry, war dringend. Wird nicht wieder vorkommen.«

Geir hastete in Gedanken über die Schleppegrells gate. Es stimmte nicht, dass bei zwei Männern und einer Frau das Risiko für die Frau, ermordet zu werden, bei eins zu acht lag, so einfach war die Rechnung nicht. Warum musste alles immer so kompliziert sein?

Er war an der Romsdalsgata vorbeigelaufen, als ihn irgendetwas bewog, sich umzudrehen. Etwa fünfzig Meter hinter ihm ging ein Mann. Er war sich nicht ganz sicher, aber war das nicht der Typ, der auf der anderen Straßenseite das Schaufenster betrachtet hatte, als er aus der Jealousy Bar herausgekommen war? Geir legte einen Zahn zu und lief nach Osten in Richtung Dælenenga und Schokoladenfabrik. Es war kein Mensch auf der Straße, aber an der Haltestelle stand ein Bus. Vermutlich war er etwas zu früh dran und musste warten. Geir sah sich um. Der Typ war noch immer hinter ihm, in gleichbleibendem Abstand. Geir hatte Angst vor dunkelhäutigen Menschen, das war von Anfang an so gewesen, dabei konnte er den Mann gar nicht richtig erkennen. Sie waren dabei, den weißen, gentrifizierten Bereich des Viertels zu verlassen und näherten sich den Sozialwohnungen mit den Massen von Ausländern. Geir sah bereits das Haus, in dem er wohnte. Hundert Meter noch. Als er sich wieder umdrehte, bemerkte er, dass der Mann hinter ihm schneller lief. Aus Angst, einen traumatisierten, aus Mogadischu geflohenen Somalier hinter sich zu haben, begann auch Geir zu rennen. Er war seit Jahren nicht mehr so schnell gelaufen, und bei jedem Schritt hämmerte es in seinem Kopf. Er erreichte sein Ziel, fand auf Anhieb das Schlüsselloch, schlüpfte ins Haus und warf die schwere Tür hinter sich zu. Keuchend lehnte er sich gegen das feuchte Holz, seine Beinmuskulatur brannte. Er drehte sich um und warf einen Blick durch das kleine Glasfenster in der Haustür, das sich auf Augenhöhe befand. Er sah niemanden. Vielleicht war das ja gar kein Somalier gewesen. Geir musste lachen. Verdammt, wie schreckhaft man werden konnte, wenn man über Mord redete. Oder hatte es damit zu tun, was Elise über diesen Stalker gesagt hatte?

Geir war noch immer außer Atem, als er seine Wohnungstür aufschloss. Er nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, sah, dass das Küchenfenster offen war, und schloss es. Dann ging er in sein Arbeitszimmer und schaltete die Lampe ein.

Er drückte eine Taste auf der Tastatur des PCs, und der große 20-Zoll-Bildschirm erwachte.

Er setzte sich davor, tippte »Pornhub« und »French« ins Suchfeld, suchte die Fotos durch, bis er eines mit einer Frau fand, die Elises Haarfarbe und Frisur hatte. Die Wohnung hatte dünne Wände, so dass er sich die kleinen PC-Kopfhörer in die Ohren steckte, bevor er das Bild anklickte, die Hose aufmachte und über die Knie nach unten zog. Die Frau ähnelte Elise so wenig, dass Geir irgendwann die Augen schloss und sich auf das Stöhnen konzentrierte, während er gleichzeitig versuchte, an Elises schmalen, etwas strengen Mund, ihren höhnischen Blick und die korrekte, aber trotzdem sexy Bluse zu denken. Nur so konnte er sie haben. Sonst niemals.

Geir hielt inne. Öffnete die Augen. Ließ seinen Schwanz los und spürte, wie sich ihm die Nackenhaare in dem kalten Luftzug, der durch die Tür drang, aufstellten. Er war sich ganz sicher, die Tür geschlossen zu haben. Er hob die Hand, um die Ohrstöpsel rauszuziehen, wissend, dass es zu spät war. Viel zu spät.

Elise legte die Sicherheitskette vor, streifte im Flur die Schuhe ab und fuhr wie gewohnt mit dem Zeigefinger über das Foto von sich und ihrer Nichte Ingvild, das im Rahmen des Spiegels klemmte. Sie wusste nicht wirklich, warum sie das tat, es war ihr einfach ein tiefes Bedürfnis, genau wie sie sich immer wieder die Frage stellte, was eigentlich nach dem Tod mit den Menschen geschah. Sie ging ins Wohnzimmer ihrer kleinen, gemütlichen Zweizimmerwohnung und legte sich aufs Sofa. Warf einen Blick auf ihr Handy. Eine SMS von der Arbeit. Die Sitzung am nächsten Morgen war abgesagt. Sie hatte dem Typ, den sie gerade getroffen hatte, nicht gesagt, dass sie als Anwältin für Vergewal­tigungsopfer arbeitete. Und dass die Statistik, dass Männer häufiger ermordet wurden, nicht stimmte. Bei sexuell motivierten Morden waren Frauen viermal häufiger die Opfer. Genau deshalb hatte sie gleich nach ihrem Einzug das Schloss ausgewechselt und die Sicherheitskette montieren lassen, mit deren Mechanismus sie noch immer zu kämpfen hatte, wenn sie die Kette vorlegen oder lösen wollte.

Sie öffnete Tinder. Drei der Männer, die sie am frühen Abend markiert hatte, hatten reagiert. Genau das war das Faszinierende an diesem Spiel. Es ging nicht darum, sie zu treffen, sondern zu wissen, dass es sie irgendwo dort draußen gab und dass diese Männer sie wollten. Sollte sie sich einen letzten kleinen Flirt gönnen? Einen letzten virtuellen Dreier mit ihren noch verbliebenen Kandidaten, ehe sie ihr Konto und die App endgültig löschte?

Nein. Jetzt löschen.

Sie öffnete das Menü, tippte die entsprechenden Befehle ein und wurde zu guter Letzt gefragt, ob sie ihr Konto wirklich endgültig löschen wollte.

Elise starrte auf ihren Zeigefinger. Er zitterte. Mein Gott, war sie inzwischen abhängig? Abhängig von dem Kick, dass da draußen jemand war, der sie wollte, ohne zu wissen, wer oder wie sie war? Sie kannten alle nur ihr Profilbild. War sie tatsächlich abhängig oder nur angetriggert? Das würde sie herausfinden, wenn sie ihr Konto jetzt löschte und sich fest vornahm, einen Monat ohne Tinder auszukommen. Einen Monat. Wenn sie das nicht schaffte, lief wirklich etwas grundverkehrt mit ihr. Der zitternde Finger näherte sich der Delete-Taste.

Und wenn sie abhängig war? Wäre das so schlimm? Wir wollen doch alle begehrt werden und jemanden haben. Sie hatte gelesen, dass ein Säugling sogar sterben konnte, wenn er nicht ein Minimum an Hautkontakt bekam. Sie bezweifelte zwar, dass das stimmte, fragte sich andererseits aber auch, was der Sinn des Lebens war, wenn es nur aus Arbeit bestand, die ­einen auffraß, und ein paar sogenannten Freunden, die sie nur aus Pflichtgefühl traf oder weil die Angst vor der Einsamkeit sie mehr quälte als das ewige Gejammer dieser Menschen über Kinder, Männer oder die Abwesenheit von mindestens einem davon. Und vielleicht war ihr Traummann ja gerade jetzt bei Tinder? Also, okay, eine letzte Runde. Das erste Bild, das aufpoppte, wischte sie nach links in den Mülleimer, in das Feld »Dich will ich nicht«. Ebenso das zweite. Und das dritte.

Ihre Gedanken kreisten in immer weiteren Bahnen. Sie war bei dem Vortrag eines Psychologen gewesen, der engen Kontakt zu einigen der schlimmsten Sexualverbrecher des Landes hatte. Er hatte berichtet, dass Männer für Sex, Geld und Macht töteten, Frauen hingegen aus Eifersucht und Angst.

Sie hielt inne. Das schmale Gesicht auf dem Bildschirm kam ihr irgendwie bekannt vor, auch wenn es unterbelichtet und ­etwas unscharf war. Es wäre nicht das erste Mal, Tinder brachte auch Leute zusammen, die sich räumlich ganz nah waren. Und laut Tinder war dieser Mann weniger als einen Kilometer entfernt. Vielleicht wohnte er sogar im gleichen Viertel. Das unscharfe Bild bedeutete, dass der Betreffende die Tips für die beste Tinder-Taktik ignoriert hatte, was an sich ein Pluspunkt war. Der Text bestand aus einem einfachen »Hallo«. Kein Versuch, besonders aufzufallen. Nicht gerade phantasievoll, aber selbstbewusst. Ja, es würde ihr definitiv gefallen, wenn ein Mann auf einer Party zu ihr käme, sie mit festem Blick ansehen, einfach nur »Hallo« sagen und damit die unausgesprochene Frage stellen würde: »Bist du bereit, weiterzugehen?«