Ein klapperdürrer Jagdhund, eine dieser Rassen, die sich die Reichen hier oben am Holmenkollen hielten, obwohl sie allenfalls alle anderthalb Jahre mal an einer Elchjagd teilnahmen, rannte an ihm vorbei. Sein Besitzer kam hundert Meter dahinter angelaufen. In der neuen Kollektion von Under Armour. Harry konnte sich ein Bild von seiner Lauftechnik machen, als sie wie zwei Züge aneinander vorbeirauschten. Schade, dass sie nicht in dieselbe Richtung liefen. Harry hätte sich ihm gerne an die Fersen geheftet und irgendwann so getan, als müsste er sich zurückfallen lassen, um dann doch an der Steigung zum Tryvann an ihm vorbeizuziehen und ihm die abgetretenen Sohlen seiner zwanzig Jahre alten Adidas-Schuhe zu zeigen. Oleg fand Harry beim Joggen unglaublich kindisch. Selbst wenn sie vereinbart hatten, die ganze Strecke ruhig zu laufen, schlug Harry kurz vorm Ziel jedes Mal ein Wettrennen vor. Er forderte die Niederlage regelrecht heraus, denn Oleg hatte ungerechterweise die Sauerstoffaufnahmefähigkeit seiner Mutter geerbt.
Zwei übergewichtige Frauen, die mehr gingen als liefen, redeten und schnauften so laut, dass sie Harry nicht von hinten kommen hörten, weshalb er auf einen kleineren Weg auswich und sich plötzlich auf unbekanntem Terrain befand. Die Bäume sperrten hier das Morgenlicht aus, und Harry fühlte sich auf einmal in seine Kindheit versetzt, bis er wieder in offeneres Gelände kam. Wie damals hatte er für einen Augenblick die Angst gespürt, sich zu verlaufen und nie wieder zurückzufinden. Dabei wusste er jetzt ganz genau, wo er hinmusste und wo sein Zuhause war.
Manche Menschen mochten die frische Luft hier oben, die weichen, sanft hügeligen Waldwege, die Stille und den Geruch der Nadelbäume. Harry mochte den Blick über die Stadt. Die Geräusche und ihren Geruch. Das Gefühl, sie greifen zu können. Und die Gewissheit, dass man in ihr untergehen und ertrinken konnte. Oleg hatte Harry erst vor kurzem gefragt, wie er sich wünschte zu sterben. Harry hatte darauf geantwortet, dass er gerne friedlich einschlafen würde. Oleg war ein schneller und möglichst schmerzfreier Tod lieber. Harry hatte gelogen. Er wollte sich in einer Kneipe dort unten in der Stadt zu Tode saufen. Und er wusste, dass auch Oleg gelogen hatte. Auch er zog die Hölle und das Paradies vergangener Tage vor, eine Überdosis Heroin. Alkohol und Heroin. Geliebte, die sie verlassen hatten, aber nicht vergessen konnten, egal, wie viel Zeit verging.
Harry machte in der Einfahrt einen Schlussspurt, hörte, wie der Kies unter seinen Sohlen wegsprang, und entdeckte Frau Syvertsen hinter der Gardine des Nachbarhauses.
Dann duschte er. Er liebte es zu duschen. Jemand sollte mal ein Buch übers Duschen schreiben.
Als er ins Schlafzimmer kam, stand Rakel in ihrem Gartenoutfit am Fenster. Gummistiefel, Arbeitshandschuhe, kaputte Jeans und verblichener Sonnenhut. Sie drehte sich zur Seite und strich sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht, die unter der Hutkrempe hervorlugte. Harry fragte sich, ob sie wusste, wie hinreißend sie in diesen Sachen aussah. Vermutlich.
»Iih«, sagte sie leise und lächelte. »Ein nackter Mann.«
Harry stellte sich hinter sie, legte ihr die Hände auf die Schultern und massierte sie leicht. »Was tust du?«
»Ich sehe mir die Fenster an. Was meinst du, müssen wir noch etwas tun, bevor Emilia kommt?«
»Emilia?«
Rakel lachte.
»Was?«
»Du hast so abrupt mit dem Massieren aufgehört, Liebster. Entspann dich, das ist niemand, der zu Besuch kommt. Bloß ein Sturm.«
»Ach, die Emilia. Diese Festung hier wird mindestens noch ein oder zwei Naturkatastrophen überstehen.«
»Das glauben wir hier oben immer, oder?«
»Was glauben wir?«
»Dass unser Leben eine Festung ist. Uneinnehmbar.« Sie seufzte. »Ich muss einkaufen.«
»Kochen wir? Wir haben das peruanische Restaurant in der Badstugata noch nicht ausprobiert. Das soll nicht teuer sein.«
Harry versuchte immer wieder, sie für seine Junggesellenangewohnheit zu begeistern, essen zu gehen. Rakel hatte seine Argumente, warum Restaurants zu den besseren Ideen der Zivilisation gehörten, mittlerweile eingesehen. Schon in der Steinzeit hätten die Menschen begriffen, dass Großküchen und das gemeinsame Essen klüger waren, als jeder für sich drei Stunden pro Tag damit zu vergeuden, ein Essen zu planen, einzukaufen, zu kochen und anschließend sauberzumachen. Auf ihren Einwand, dass das ziemlich dekadent sei, hatte er geantwortet, es sei viel dekadenter, wenn sich eine vierköpfige Familie eine Küche für Millionen von Kronen leistete. Und dass es eine gesunde, nicht dekadente Nutzung der Ressourcen sei, gutausgebildeten Köchen das zu zahlen, was sie brauchten, um in einer Großküche zu arbeiten, während diese ebenfalls dafür zahlten, dass Rakel juristischen Beistand leisten und Harry zukünftige Polizisten ausbilden konnte.
»Heute bin ich mit Bezahlen dran«, sagte er und hielt sie am rechten Arm fest. »Bleib.«
»Ich muss einkaufen«, sagte sie und schnitt eine Grimasse, als er sie an seinen noch immer dampfenden Körper zog. »Oleg und Helga kommen.«
Er hielt sie noch fester. »Wirklich. Hast du nicht gerade gesagt, dass kein Besuch kommt?«
»Ein paar Stunden mit Oleg und Helga wirst du …«
»Ich mach doch nur Witze. Ich freue mich, das wird schön. Aber sollten wir nicht lieber …?«
»Nein, wir gehen nicht mit ihnen essen. Helga war noch nie hier, und ich will sie mir in aller Ruhe ansehen.«
»Arme Helga«, flüsterte Harry und wollte Rakel ins Ohrläppchen beißen, als ihm etwas an ihrem Hals auffiel.
»Was ist das?« Vorsichtig legte er einen Finger auf die rote Stelle.
»Was?«, fragte sie und tastete selbst. »Ach das. Da hat der Arzt Blut abgenommen.«
»Am Hals?«
»Frag mich nicht, warum.« Sie lachte. »Du bist süß, wenn du dir Sorgen machst.«
»Ich mache mir keine Sorgen«, sagte Harry. »Ich bin eifersüchtig. Das ist mein Hals, und wir wissen ja, dass du eine Schwäche für Ärzte hast.«
Sie lachte, und er drückte sie noch fester an sich.
»Nein«, sagte sie.
»Nicht?«, fragte er, hörte ihren Atem mit einem Mal schwerer gehen und spürte, wie sie ihren Körper an ihn schmiegte.
»Zur Hölle mit dir«, stöhnte sie. Rakel brauchte, wie sie selbst immer betonte, wenig Zeit, um warmzulaufen. Das Fluchen war immer das sicherste Zeichen, dass er sie überzeugt hatte.
»Vielleicht sollten wir es doch lassen«, flüsterte er und ließ sie los. »Wie der Garten wieder aussieht.«
»Zu spät«, knurrte sie.
Er knöpfte ihr die Jeans auf und zog sie ihr samt Slip über die Knie nach unten, bis sie auf dem Schaft der Stiefel lag. Sie beugte sich vor, legte die eine Hand an die Fensterbank und wollte mit der anderen den Hut abnehmen.
»Nein«, flüsterte er, den Kopf dicht neben ihrem. »Lass ihn auf.«
Ihr leises, glucksendes Lachen kitzelte in seinem Ohr. Gott, wie er dieses Lachen liebte! Dann mischte sich ein anderes Geräusch in das Lachen. Sein Handy vibrierte neben ihrer Hand auf der Fensterbank.
»Wirf es aufs Bett«, flüsterte er und sah ganz bewusst nicht aufs Display.
»Das ist Katrine Bratt«, sagte sie.
Rakel zog die Hose hoch und beobachtete ihn.
Sein Gesicht war hoch konzentriert.
»Wie lange ist das her?«, fragte er. »Verstehe.«
Sie sah, wie er sich mit der Stimme der anderen Frau am Ohr immer weiter von ihr entfernte. Sie wollte die Hände nach ihm ausstrecken, aber es war zu spät, er war bereits weg. Nur der nackte, magere Körper mit den sehnigen Muskeln unter der blassen Haut stand noch vor ihr. Seine Augen waren offen. Das verwaschene Blau der Iris zeugte von Jahren des Alkoholmissbrauchs. Er sah sie nicht mehr, sein Blick war nach innen gerichtet. Am Abend zuvor hatte er ihr erklärt, warum er diesen Fall hatte annehmen müssen. Sie hatte nicht protestiert. Denn wenn Oleg aus der Polizeihochschule flog, würde er rückfällig werden. Und wenn sie die Wahl hatte, Harry oder Oleg zu verlieren, würde sie lieber Harry verlieren. Damit hatte sie jahrelange Erfahrung, und sie wusste, dass sie ohne ihn leben konnte. Ob sie ohne ihren Sohn leben konnte, wusste sie nicht. Aber während er ihr erklärt hatte, dass er das für Oleg tat, hatte sie plötzlich das Echo von etwas gehört, das er erst kürzlich gesagt hatte: Es könnte nämlich irgendwann der Tag kommen, an dem ich tatsächlich lügen muss, und dann wäre es toll, wenn du mich für ehrlich halten würdest.