»Ich komme sofort«, sagte Harry. »Adresse?«
Harry beendete das Gespräch und begann sich anzuziehen. Schnell und effektiv. Wie eine Maschine, die tat, wofür sie gebaut worden war. Rakel beobachtete ihn, versuchte alles aufzunehmen, in dem Bewusstsein, dass sie ihn eine Weile nicht sehen würde.
Er eilte ohne einen Blick oder ein Wort des Abschieds an Rakel vorbei. Sie war ausgebootet, aus seinem Kopf gelöscht. Das vermochten seine beiden wahren Geliebten: Alkohol und Mord. Vor Letzterer hatte sie am meisten Angst.
Harry stand vor dem orange-weißen Absperrband, als vor ihm ein Fenster im Hochparterre des Hauses aufging. Katrine Bratt streckte den Kopf heraus.
»Lassen Sie ihn rein«, rief sie dem jungen Beamten zu, der ihm den Weg versperrte.
»Er kann sich nicht ausweisen«, protestierte der Polizist.
»Das ist Harry Hole«, rief Katrine.
»Wirklich?« Der Mann musterte Harry von Kopf bis Fuß, bevor er das Absperrband anhob. »Ich dachte, Sie wären bloß eine Legende«, sagte er.
Harry ging die drei Stufen zu der offenen Wohnungstür hoch. Drinnen folgte er den Miniflaggen, mit denen die Spurensicherung Fundstücke markierte. Zwei Kriminaltechniker knieten am Boden und kratzten etwas aus Bodenfugen.
»Wo …?«
»Da drin«, sagte einer der Techniker.
Harry blieb vor der Tür stehen, auf die der Techniker gezeigt hatte. Holte tief Luft und versuchte an nichts zu denken. Dann trat er ein.
Er nahm so viele Eindrücke auf, wie er konnte: Licht, Gerüche, Einrichtung, alles. Und alles, was nicht da war.
»Guten Morgen, Harry«, sagte Bjørn Holm.
»Kannst du kurz mal zur Seite treten?«, fragte Harry leise.
Bjørn ging vom Sofa weg, über das er sich gebeugt hatte. Die Leiche kam zum Vorschein. Harry trat einen Schritt zurück, ließ die Szenerie, die Komposition, das Gesamtbild auf sich wirken. Erst dann machte er wieder einen Schritt vor und begann sich Details zu notieren. Die Frau saß auf dem Sofa, die Beine gespreizt, ihr Kleid war nach oben gerutscht und der schwarze Slip zu sehen. Der Kopf lag nach hinten gekippt auf der Sofalehne und die langen, blond gefärbten Haare hingen herunter. In ihrem Hals klaffte ein großes Loch.
»Sie wurde da vorn ermordet«, sagte Bjørn und zeigte an die Wand neben dem Fenster. Harry ließ seinen Blick über die Tapete und den unbehandelten Holzboden schweifen.
»Weniger Blut«, sagte Harry. »Dieses Mal hat er nicht die Halsschlagader verletzt.«
»Vielleicht verfehlt«, sagte Katrine, die aus der Küche kam.
»Der muss verdammt starke Kiefer haben«, sagte Bjørn. »Die durchschnittliche Bisskraft beim Menschen entspricht etwa siebzig Kilo. Der Täter scheint den Kehlkopf und einen Teil der Luftröhre auf einmal abgebissen zu haben. Dafür braucht man selbst mit spitzen Eisenzähnen sehr viel Kraft.«
»Oder sehr viel Wut«, sagte Harry. »War in der Wunde Rost oder Farbe?«
»Nein, aber vielleicht ist alles, was lose war, schon abgegangen, als er Elise Hermansen gebissen hat.«
»Vielleicht hat er dieses Mal aber auch keine Eisenzähne benutzt, sondern etwas anderes. Die Leiche wurde auch nicht im Bett in Szene gesetzt.«
»Ich verstehe, auf was du hinauswillst, Harry, aber das ist derselbe Täter«, sagte Katrine. »Komm mal mit.«
Harry folgte ihr in die Küche. Einer der Kriminaltechniker nahm Proben von der Innenseite eines Glaskolbens, der in der Spüle stand.
»Er hat sich einen Smoothie gemacht«, sagte Katrine.
Harry schluckte und starrte auf den Kolben. Die Innenseite war rot.
»Aus Blut. Wahrscheinlich mit einer Zitrone aus dem Kühlschrank.« Sie zeigte auf die gelben Schalenreste auf der Anrichte.
Harry spürte die Übelkeit kommen. Das war wie mit dem ersten Glas, das einem immer wieder hochkam und das man auskotzen musste. Zwei Gläser später konnte man nicht mehr aufhören zu trinken. Er nickte und ging wieder nach draußen. Inspizierte kurz Badezimmer und Schlafzimmer, ehe er zurück ins Wohnzimmer ging. Er schloss die Augen und lauschte. Die Frau, ihr stummer Körper, die Art, wie sie inzeniert war. Wie Elise Hermansen. Und plötzlich war es da, das Echo. Das war er. Er musste es sein.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er direkt in das Gesicht eines blonden jungen Mannes, den er irgendwo schon einmal gesehen hatte.
»Anders Wyller«, sagte der junge Mann. »Ermittler.«
»Ach ja«, sagte Harry. »Du hast vor zwei Jahren die Polizeihochschule absolviert, stimmt’s? Zwei Jahre?«
»Zwei Jahre.«
»Meinen Glückwunsch für die guten Noten.«
»Danke. Du erinnerst dich noch an die Noten?«
»Ich erinnere mich an gar nichts, das ist bloß die logische Schlussfolgerung. Deine Noten müssen gut gewesen sein, sonst wärst du nicht nach zwei Jahren schon beim Morddezernat.«
Anders Wyller lächelte. »Sag Bescheid, wenn ich störe, dann verziehe ich mich. Die Sache ist die, ich bin erst seit zweieinhalb Tagen hier, und wenn das jetzt ein Doppelmord ist, wird so bald niemand Zeit haben, mich einzuarbeiten. Deshalb wollte ich fragen, ob ich dir vielleicht ein bisschen über die Schulter schauen darf. Natürlich nur, wenn das okay für dich ist.«
Harry musterte den jungen Mann. Er erinnerte sich an ihn, er war immer wieder zu Harry in die Sprechstunde gekommen und hatte viele Fragen gestellt. So viele und manchmal völlig irrelevante, dass Harry ihn schon in Verdacht gehabt hatte, ein Holehead zu sein. Holehead war die Bezeichnung für Studierende an der Polizeihochschule, die von dem Mythos Harry Hole besessen waren. Einige extreme Fälle hatten sich wohl nur wegen ihm an der Hochschule beworben. Harry scheute sie wie der Teufel das Weihwasser. Aber Holehead oder nicht, Anders Wyller würde es mit seinem Abschluss, dem Ehrgeiz, seinem Lächeln und dem ungezwungenen Auftreten weit bringen können, dachte Harry. Doch bevor Wyller so weit war, sollte er sich ruhig nützlich machen und beispielsweise ein paar Morde aufklären.
»Okay«, sagte Harry. »Die erste Lektion ist, dass du von deinen neuen Kollegen enttäuscht sein wirst.«
»Enttäuscht?«
»Du bist stolz und motiviert, weil du glaubst, es bei der Polizei nun ganz nach oben geschafft zu haben. An dieser Stelle deshalb die erste Lektion: Mordermittler sind auch nur Menschen und nicht besser als andere. Wir sind nicht sonderlich intelligent, einige von uns sogar ausgemacht dumm. Wir machen Fehler, viele Fehler, und lernen nicht sonderlich viel daraus. Und wenn wir müde werden, entscheiden wir uns manchmal fürs Schlafen, statt weiter zu jagen, obwohl wir wissen, dass die Lösung des Falls unmittelbar bevorsteht. Wenn du also glaubst, dass wir dir die Augen öffnen, dich inspirieren und dir eine ganz neue Welt ermittlungstechnischer Raffinesse zeigen können, wirst du enttäuscht sein.«
»All das weiß ich doch längst, Harry.«
»Ach ja?«
»Ich arbeite seit zwei Tagen mit Truls Berntsen zusammen. Ich will nur wissen, wie du arbeitest.«
»Du hast meinen Kurs zum Thema Mordermittlung belegt.«
»Und ich weiß, dass das nicht deine Arbeitsweise ist. An was hast du gedacht?«
»Gedacht?«
»Als du mit geschlossenen Augen dagestanden hast. Das hast du in der Vorlesung nie gemacht.«
Harry sah, dass Bjørn sich aufgerichtet hatte und Katrine mit verschränkten Armen in der Tür stand und ihm aufmunternd zunickte.