»Okay«, sagte Harry. »Jeder hat seine Methode. Ich versuche, sämtliche Gedanken zu registrieren und zu sortieren, die mir durch den Kopf gehen, wenn ich an einen neuen Tatort komme. All die scheinbar unbedeutenden Schlüsse, die das Hirn ganz automatisch zieht, wenn wir etwas zum ersten Mal sehen. Gedanken, die wir ganz schnell wieder vergessen, weil es uns nicht gelingt, sie zu formulieren, bevor unsere Aufmerksamkeit sich wieder auf etwas anderes richtet. Wie Träume, die verschwinden, sobald man die Augen aufschlägt und all das andere um sich herum wahrnimmt. Neun von zehn dieser Gedanken sind wertlos. Beim zehnten kannst du hoffen, dass er wichtig ist.«
»Und?«, fragte Wyller. »War so ein Gedanke dabei?«
Harry zögerte. Sah Katrines abschätzenden Blick. »Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass der Täter ein besonderes Faible für Reinlichkeit hat.«
»Reinlichkeit?«
»Er hat sein voriges Opfer von dem Ort, an dem er es umgebracht hat, zum Bett getragen. Serienmörder gehen eigentlich immer gleich vor, warum hat er dieses Opfer hier also im Wohnzimmer gelassen? Der einzige Unterschied zwischen dem Schlafzimmer in dieser Wohnung und dem bei Elise Hermansen ist, dass hier das Bettzeug schmutzig ist. Ich war gestern noch einmal in Hermansens Wohnung, als die Kriminaltechnik das Bettzeug geholt hat. Es hat nach Lavendel gerochen.«
»Er hat sich an der Toten im Wohnzimmer vergangen, weil er nicht mit dreckigem Bettzeug klarkommt?«
»Dazu kommen wir noch«, sagte Harry. »Hast du den Mixer in der Küche gesehen? Okay. Dann wirst du auch bemerkt haben, dass er den Glaskolben nach Benutzung in die Spüle gestellt hat? Das war nicht nötig, wenn er ihn nicht spülen wollte. War das also eine Zwangshandlung? Leidet er an einem Reinlichkeitstick, Bakterienphobie? Phobien sind ziemlich typisch für Serienmörder. Aber er hat sein Vorhaben nicht zu Ende gebracht, er hat den Kolben nicht abgespült, ihn nicht mal mit Wasser gefüllt, damit der Blutsmoothie nicht antrocknet. Und warum hat er das nicht getan?«
Anders Wyller schüttelte den Kopf.
»Okay, auch darauf kommen wir noch zurück«, sagte Harry und nickte in Richtung der Toten. »Wie du siehst, hat die Frau …«
»Der Nachbar hat sie als Ewa Dolmen identifiziert«, sagte Katrine. »Ewa mit w.«
»Danke. Ewa trägt, wie du siehst, noch immer ihren Slip. Im Gegensatz zu Elise, die hat er ausgezogen. Im Mülleimer im Bad lagen obenauf leere Tamponverpackungen, weshalb ich darauf tippe, dass Ewa gerade ihre Tage hat. Katrine, kannst du mal nachsehen?«
»Die Rechtsmedizinerin ist unterwegs.«
»Nur um zu schauen, ob meine Vermutung stimmt und der Tampon noch drin ist.«
Katrine zog die Stirn in Falten und tat, was Harry wollte, während die drei Männer sich abwendeten.
»Ja, du hast recht.«
Harry nahm ein Päckchen Camel aus der Jackentasche. »Was bedeutet, dass der Täter – außer er hat den Tampon wieder reingesteckt – sie nicht vaginal vergewaltigt hat. Weil er …« Harry zeigte mit seiner Zigarette auf Anders Wyller.
»Reinlich ist«, sagte Wyller.
»Das ist zumindest eine Möglichkeit«, fuhr Harry fort. »Die andere ist, dass er kein Blut mag.«
»Kein Blut mag?«, sagte Katrine. »Verdammt, der trinkt Blut.«
»Mit Zitrone«, sagte Harry und steckte sich die nicht angezündete Zigarette zwischen die Lippen.
»Was?«
»Das frage ich mich auch«, sagte Harry. »Was? Was bedeutet das? Ist ihm Blut zu süß?«
»Versuchst du, witzig zu sein?«, fragte Katrine.
»Nein, ich finde es nur sonderbar, dass jemand, von dem wir glauben, dass er Blut trinkt, um sexuelle Befriedigung zu finden, seinen Lieblingsdrink nicht pur zu sich nimmt. Leute nehmen Zitrone zu Gin oder Fisch, angeblich weil das den jeweiligen Eigengeschmack hervorhebt. Aber das stimmt nicht, Zitrone betäubt die Geschmacksknospen und überlagert alles. Wir nehmen Zitrone, um den Geschmack von etwas, das wir nicht mögen, abzuschwächen. Tran wird viel besser verkauft, seit Zitrone zugesetzt wird. Vielleicht mag unser Vampirist also gar kein Blut, vielleicht ist das Trinken von Blut nur eine Zwangshandlung.«
»Vielleicht ist er abergläubisch und trinkt das Blut, um die Kraft seiner Opfer zu übernehmen«, sagte Wyller.
»Auf jeden Fall ist er jemand, der von einem sexuellen Wahn angetrieben wird. Trotzdem hat er den Unterleib dieser Frau nicht angerührt. Und das vielleicht, weil sie blutet.«
»Ein Vampirist, der kein Menstruationsblut erträgt«, sagte Katrine. »Das soll mal einer verstehen …«
»Was uns zurückbringt zu dem Glaskolben«, sagte Harry. »Haben wir andere physische Spuren vom Täter oder nur diesen Kolben?«
»An der Eingangstür«, sagte Bjørn.
»An der Tür?«, fragte Harry. »Ich habe einen Blick auf das Schloss geworfen, als ich gekommen bin, das sieht nicht nach einem Einbruch aus.«
»Nein, es ist kein Einbruch. Es geht um die Tür. Du musst dir die Außenseite angucken.«
Die drei anderen standen draußen auf dem Flur und sahen zu, wie Bjørn das Seil löste, mit dem die Tür an einem Haken in der Wand festgebunden worden war. Sie schloss sich langsam, und die Außenseite kam zum Vorschein.
Harry erstarrte. Sein Herz schlug schneller. Sein Mund wurde trocken.
»Ich habe die Tür festgebunden, damit keiner von euch das anfasst«, sagte Bjørn.
Auf die Tür war ein V gemalt worden, über einen Meter hoch. Dass es ausfranste, lag an dem Blut, das langsam nach unten gelaufen war.
»Deshalb wurden wir gerufen«, sagte Katrine. »Die Nachbarn haben Ewas Katze auf dem Flur maunzen hören. Es kam nicht selten vor, dass die Katze ausgesperrt war, darum haben sie sie häufig mit in die Wohnung genommen, wenn Ewa die Tür nicht aufmachte. Inzwischen sei es für die Katze schon nicht mehr ganz klar, wohin sie eigentlich gehörte, meinten sie. Aber egal, als sie die Katze zu sich hereinlassen wollten, leckte die gerade an Ewas Tür. Und da Katzen für gewöhnlich keine Farbe mögen, war ihnen gleich klar, dass das V mit Blut gemalt worden sein musste.«
Die vier starrten wortlos auf die Tür.
Bjørn brach als Erster das Schweigen. »V für Victory?«
»V für Vampirist?«, sagte Katrine.
»Oder er hat einfach nur ein weiteres Opfer abgehakt«, schlug Wyller vor.
Die drei sahen Harry an.
»Ich weiß es nicht«, sagte er.
Katrine sah ihn eindringlich an. »Komm schon, ist sehe doch, dass dir etwas durch den Kopf geht.«
»Hm. V für Vampirist ist vielleicht kein schlechter Vorschlag. Das würde dazu passen, dass er sich so sehr anstrengt, um uns genau das zu zeigen.«
»Genau was?«
»Dass er etwas ganz Besonderes ist. Eisenzähne, der Smoothie-Mixer, dieser Buchstabe. Er empfindet sich selbst als einzigartig und zeigt uns Puzzlesteinchen, damit wir das auch erkennen. Er will, dass wir näher kommen.«
Katrine nickte.
Wyller zögerte, als verstünde er, dass seine Redezeit vorbei war, trotzdem wagte er einen Versuch.
»Meinst du, dass der Mörder tief in seinem Inneren verraten will, wer er ist?«
Harry antwortete nicht.
»Nicht, wer er ist, aber was«, sagte Katrine. »Er zeigt Flagge.«
»Darf ich fragen, was das bedeutet?«
»Bitte«, sagte Katrine. »Frag unseren Experten für Serienmorde.«
Harry starrte auf den Buchstaben. Es war jetzt nicht mehr das Echo eines Schreis. Es war ein Schrei. Der Schrei des Dämons.
»Das bedeutet …«, sagte Harry, entzündete das Feuerzeug, hielt die Flamme vor die Zigarette und nahm einen tiefen Zug. »Dass er spielen will.«
»Du glaubst, dass das V für etwas anderes steht«, sagte Katrine, als sie und Harry eine Stunde später aus der Wohnung aufbrachen.
»Tue ich das?«, fragte Harry und sah sich auf der Straße um. Tøyen. Das Stadtviertel der Einwanderer. Schmale Straßen, pakistanische Lebensmittelläden, Kopfsteinpflaster, Norwegischlehrer auf Fahrrädern, türkische Cafés, Mütter mit Hidschab, Studierende, Luft und Liebe und ein winziger Plattenladen, der Vinyl und Hardrock die Treue hielt. Harry liebte Tøyen. So sehr, dass er sich manchmal fragte, was er eigentlich da oben auf diesem Nobelhügel machte.