»Du wolltest es nur nicht laut sagen«, fuhr Katrine fort.
»Weißt du, was mein Großvater immer gesagt hat, wenn er mich beim Fluchen erwischt hat? Wenn du den Teufel rufst, dann kommt er. Nun …«
»Nun was?«
»Willst du, dass der Teufel kommt?«
»Wir haben es mit einem Doppelmord zu tun, Harry, vielleicht mit einer Serie. Kann es da noch schlimmer werden?«
»Ja«, sagte Harry. »Es kann.«
Kapitel 11
Samstagnachmittag
»Wir gehen davon aus, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben«, sagte Hauptkommissarin Katrine Bratt und ließ ihren Blick über die vollzählig anwesenden Kollegen schweifen. Auch Harry war da. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass er an den Besprechungen teilnahm, solange er seine eigene kleine Gruppe noch nicht zusammengestellt hatte.
Alle waren konzentrierter als bei den vorangegangenen Besprechungen, was natürlich mit der Entwicklung des Falls zu tun hatte. Trotzdem war Katrine überzeugt, dass auch Harrys Anwesenheit ihren Teil dazu beitrug. Er war das versoffene, arrogante Enfant terrible des Dezernats, das mit seinen höchst zweifelhaften Arbeitsmethoden direkt oder indirekt die Schuld am Tod von Kollegen trug, aber das spielte alles keine Rolle. Seine Ergebnisse waren über jeden Zweifel erhaben, und er hatte noch immer die düstere, mitunter geradezu erschreckende Ausstrahlung, der man sich nicht entziehen konnte. Irgendwie saßen die Kollegen aufrechter auf ihren Stühlen. Katrine kam spontan nur eine Person in den Sinn, die er nicht hinter Schloss und Riegel hatte bringen können. Aber vielleicht stimmte trotzdem das, was Harry sagte: Selbst einer Puffmutter wird Respekt gezollt, wenn sie sich lange genug im Milieu hält.
»Ein Täter wie dieser ist aus mehreren Gründen sehr schwer zu fassen. In erster Linie, weil er alles gründlich plant, sich zufällige Opfer sucht und keine anderen Spuren am Tatort hinterlässt als die, die wir finden sollen. Deshalb sind die Mappen mit den Berichten der Spurensicherung, der Rechtsmedizin und der Ermittler, die vor Ihnen liegen, auch so dünn. Es ist uns noch immer nicht gelungen, einen der uns bekannten Sexualstraftäter mit den Morden an Elise Hermansen und Ewa Dolmen oder einem der Tatorte in Verbindung zu bringen. Wohl aber konnten wir eine bestimmte Methode identifizieren. Tord?«
Der IT-Experte lachte unpassenderweise, als fände er irgendetwas an dem, was Katrine gesagt hatte, lustig.
»Ewa Dolmen hat eine Nachricht von ihrem Handy geschickt, die Aufschluss darüber gibt, dass sie in einer Sportsbar namens Dicky ein Tinder-Date hatte«, sagte Tord.
»Dicky?«, platzte Magnus Skarre heraus. »Das ist doch schräg gegenüber von der Jealousy Bar.«
Ein einstimmiges Stöhnen ging durch den Raum.
»Wenn das mit den Tinder-Dates und den Treffpunkten in Grünerløkka ein Muster ist, haben wir wenigstens etwas«, sagte Katrine.
»Und was?«, fragte einer der Ermittler.
»Eine Idee, wie es beim nächsten Mal sein wird.«
»Und wenn es kein nächstes Mal gibt?«
Katrine holte tief Luft. »Harry?«
Harry lehnte sich im Stuhl zurück. »Nun. Für gewöhnlich machen Serienmörder, die ihr Handwerk noch lernen, größere Pausen zwischen den ersten Morden. Es können Monate vergehen. Jahre. Normalerweise folgt auf einen Mord eine Art Erholungsphase, bevor die sexuelle Frustration sich langsam wieder aufbaut. Diese Zyklen werden in der Regel immer kürzer, und die Morde folgen immer schneller aufeinander. Bei einem kurzen Zyklus von nur zwei Tagen liegt deshalb die Vermutung nahe, dass unser Mann nicht zum ersten Mal ein solches Verbrechen begeht.«
Stille. Alle warteten auf die Fortsetzung, aber es kam keine.
Katrine räusperte sich. »Das Problem ist, dass wir in den letzten fünf Jahren keine Gewaltverbrechen in Norwegen finden, die diesen beiden brutalen Morden ähneln. Wir haben in Zusammenarbeit mit Interpol überprüft, ob der Mörder möglicherweise sein Revier gewechselt hat und nach Norwegen gekommen ist. Aber von dem Dutzend Kandidaten, die in Frage kämen, scheint keiner in der letzten Zeit umgezogen zu sein. Wir wissen also nicht, wer er ist. Aber wir können sagen, dass er – das zeigt die Erfahrung – wieder zuschlagen wird. Und das vermutlich bald.«
»Wie bald?«, ertönte eine Stimme.
»Schwer zu sagen«, meinte Katrine und sah zu Harry, der diskret einen Daumen hob. »Aber wir müssen damit rechnen, dass es im Laufe eines Tages passieren kann.«
»Und wir können nichts tun, um ihn zu stoppen?«
Katrine verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. »Wir haben den Polizeipräsidenten gebeten, morgen auf der Pressekonferenz eine offizielle Warnung an die Bevölkerung herauszugeben. In der Hoffnung, dass die erhöhte Aufmerksamkeit den Täter dazu veranlasst, von seinen Plänen abzusehen oder den nächsten Mord wenigstens erst einmal aufzuschieben.«
»Wird ihn das wirklich abhalten?«, fragte Wolff.
»Ich glaube …«, begann Katrine, wurde aber unterbrochen.
»Bei allem Respekt, Bratt, die Frage war an Hole gerichtet.«
Katrine schluckte und versuchte, sich nicht provozieren zu lassen. »Was meinst du, Harry? Wird ihn eine öffentliche Warnung abhalten?«
»Keine Ahnung«, sagte Harry. »Vergesst alles, was ihr im Fernsehen gesehen habt. Serienmörder sind keine Roboter, die einem bestimmten Programm und starrem Handlungsmuster folgen, sie sind ebenso unterschiedlich und unberechenbar wie alle anderen Menschen auch.«
»Gute Antwort, Hole.« Alle drehten sich zu Polizeipräsident Bellman um, der mit verschränkten Armen am Türrahmen lehnte. »Niemand weiß, welche Wirkung eine öffentliche Warnung auf einen wahnsinnigen Täter hätte. Vielleicht stachelt ihn das auch nur an und gibt ihm das Gefühl, die Situation im Griff zu haben, unverwundbar zu sein und einfach weitermachen zu können. Aber wir wissen, dass eine öffentliche Warnung den Eindruck erweckt, dass wir hier im Präsidium die Kontrolle über die Situation verloren haben. Und das würde die Bürger dieser Stadt nur verunsichern. Noch weiter verunsichern, sollten wir wohl sagen. Wer von Ihnen mal ins Netz geschaut und die Schlagzeilen gelesen hat, wird gesehen haben, dass bereits über einen Zusammenhang zwischen den Morden spekuliert wird. Deshalb habe ich einen besseren Vorschlag.«
Mikael Bellman zupfte an den weißen Manschetten, die aus den Ärmeln seiner Anzugjacke herausragten.
»Schnappen wir diesen Typen einfach, bevor er noch mehr Unheil anrichten kann.« Er lächelte in die Runde. »Oder was meinen Sie?«
Katrine sah ein paar nickende Köpfe.
»Gut«, sagte Bellman mit einem Blick auf die Uhr. »Machen Sie weiter, Hauptkommissarin Bratt.«
Das Glockenspiel am Rathaus verkündete, dass es 20.00 Uhr war, als der zivile Polizeiwagen, ein VW Passat, langsam an ihm vorbeifuhr.
»Das war die beschissenste Pressekonferenz, die ich jemals geleitet habe«, schimpfte Katrine und bog in die Dronning Mauds gate ein.
»Neunundzwanzigmal«, sagte Harry.
»Was?«
»Du hast neunundzwanzigmal ›kein Kommentar‹ gesagt«, sagte Harry. »Ich habe mitgezählt.«
»Ich war kurz davor zu sagen, dass der Polizeipräsident uns einen Maulkorb verpasst hat. Was macht Bellman da eigentlich? Keine Warnung der Öffentlichkeit, mit keinem Wort erwähnen, dass ein Serienmörder frei herumläuft und die Leute vorsichtig sein sollen?«
»Er hat schon recht, eine solche Warnung würde vollkommen irrationale Ängste schüren.«
»Irrational?«, fauchte Katrine. »Sieh dich doch mal um! Es ist Samstagabend, und die Hälfte der Frauen, die du hier herumlaufen siehst, ist auf dem Weg, irgendwelche Männer zu treffen, die sie nicht kennen. Den Prinzen, der ihr Leben verändern soll. Und wenn dein Tip von einem Tag stimmt, wird sich das für eine von ihnen verdammt bewahrheiten.«