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»Wusstest du, dass im Zentrum von London ein schrecklicher Busunfall passiert ist, als in Paris der Terroranschlag war? Fast gleich viele Tote wie in Paris. Norweger, die Bekannte in Paris hatten, haben besorgt dort angerufen, um herauszubekommen, ob ihre Freunde unter den Opfern sind. Um die Freunde in London hat sich kaum jemand Sorgen gemacht. Nach dem Terror­anschlag hatten die Menschen Angst, nach Paris zu fahren, trotz einer hohen Sicherheitsstufe. Aber niemand hatte Angst, in London in einen Bus zu steigen, obwohl die Verkehrssicherheit da keine Spur besser geworden war.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Dass die Angst der Menschen, auf diesen Vampiristen zu treffen, unverhältnismäßig groß ist, weil er auf den Titelseiten der Zeitungen prangt und weil sie gelesen haben, dass er ihr Blut trinkt. Andererseits qualmen sie Zigaretten, von denen sie ganz sicher wissen, dass sie sie umbringen.«

»Sag mal, hältst du zu Bellman?«

»Nein«, sagte Harry und sah auf die Straße. »Ich nehme die Gegenposition nur ein, weil ich verstehen will, was Bellman vorhat. Er will doch immer irgendetwas erreichen.«

»Und das wäre?«

»Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall will er diese Sache so klein wie möglich halten und rasch vom Tisch haben. Wie ein Boxer, der einen Titel verteidigt.«

»Von was redest du, Harry?«

»Wenn du den Gürtel hast, tust du gut daran, weitere Kämpfe möglichst zu vermeiden. Das Beste, was du erreichen kannst, ist, zu behalten, was du schon hast.«

»Interessante Theorie. Wie sehen deine anderen Theorien aus?«

»Ich habe gesagt, dass ich nicht sicher bin.«

»Er hat ein V an die Tür von Ewa Dolmen gemalt. Das ist der erste Buchstabe seines Namens, Harry. Und du hast gesagt, dass du den Tatort wiedererkannt hast. Aus der Zeit, als er aktiv war.«

»Ja, aber ich schaffe es nicht, mir ins Bewusstsein zu holen, was ich wiedererkannt habe.«

Harry zögerte, als ihm mit einem Mal ein neutrales Straßenbild durch den Kopf ging.

»Hör mal, Katrine, dieser Biss in die Kehle, die Eisenzähne, das Bluttrinken, das ist alles nicht wirklich seine Art des Vor­gehens. Serientäter und Mörder sind vielleicht unberechenbar, was Details angeht, aber sie ändern nicht ihre Methode.«

»Er hat viele Methoden, Harry.«

»Er liebt ihren Schmerz und ihre Angst. Nicht das Blut.«

»Du hast gesagt, der Mörder hätte Zitrone ins Blut gemischt, weil er es eigentlich gar nicht mag.«

»Katrine, es würde uns nicht mal helfen, wenn wir wüssten, dass er es ist. Interpol und ihr jagt ihn jetzt schon wie lange?«

»Jetzt bald vier Jahre.«

»Aus diesem Grund halte ich es für kontraproduktiv, die anderen über den Verdacht zu informieren und dadurch zu riskieren, dass die Ermittlungen sich nur noch auf diese Person konzen­trieren.«

»Oder weil du ihn für dich selbst haben willst?«

»Was?«

»Du bist doch wegen ihm zurückgekommen, Harry. Hab ich recht? Du hast von Anfang an gerochen, dass er wieder da ist. Oleg ist nur ein Vorwand.«

»Katrine, hören wir damit auf.«

»Bellman hätte niemals Olegs Vergangenheit öffentlich gemacht, weil es ein verdammt schlechtes Licht auf ihn werfen würde, dass er nicht viel früher reagiert hat.«

Harry drehte das Radio lauter. »Hast du das schon mal gehört? Aurora Aksnes, ziemlich …«

»Du hasst elektronische Musik, Harry.«

»Nicht mehr als dieses Gespräch.«

Katrine seufzte und hielt an einer roten Ampel. Sie beugte sich vor und sah nach oben. »Guck mal, wir haben Vollmond.«

»Es ist Vollmond«, sagte Mona Daa und sah durch das Küchenfenster auf die gefurchten Felder. Das Licht des Mondes verlieh ihnen einen Glanz, als wäre Schnee gefallen. »Steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass er schon heute Nacht wieder zuschlägt? Zum dritten Mal? Was meinen Sie?«

Hallstein Smith lächelte. »Kaum. Nach allem, was Sie mir über die Morde gesagt haben, ist das Verhalten dieses Vampiristen eher durch Paraphilien wie Nekrophilie und Sadismus als durch Mythomanie oder den Glauben geprägt, selbst ein außerirdisches Wesen zu sein. Aber dass er wieder zuschlägt, steht außer Frage.«

»Interessant.« Mona Daa machte sich Notizen auf dem Block, der auf dem Tisch neben der Tasse mit frisch aufgebrühtem grünem Chili-Tee lag. »Und was glauben Sie, wie und wann das passieren wird?«

»Sie haben gesagt, dass auch die letzte Frau ein Tinder-Date hatte?«

Mona Daa nickte, während sie sich weitere Notizen machte. Die meisten ihrer Kollegen nutzten Aufnahmegeräte, doch obwohl sie eine der jüngsten Kriminalreporterinnen war, bevorzugte sie die altbewährte Methode. Ihre offizielle Erklärung ­lautete, dass sie in dem ewigen Rennen, die Erste zu sein, Zeit sparen konnte, weil sie so bereits beim Notieren redigieren konnte. Besonders bei Pressekonferenzen war das ein Vorteil. Wobei man bei der Pressekonferenz, die am Nachmittag im Präsidium stattgefunden hatte, auch ganz ohne Block oder Aufnahmegerät ausgekommen wäre. Katrine Bratts Kein-Kommentar-Mantra hatte gegen Ende sogar erfahrene Kriminalreporter auf die Palme gebracht.

»Wir haben das zwar noch nicht veröffentlicht, aber durch einen Tip aus Polizeikreisen wissen wir, dass Ewa Dolmen eine SMS an eine Freundin geschickt und darin geschrieben hat, dass sie ein Tinder-Date im Dicky in Grünerløkka habe.«

»Aha.« Smith rückte seine Brille zurecht. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er bei der Methode bleiben wird, mit der er bislang Erfolg hatte.«

»Was würden Sie denn denjenigen raten, die in den nächsten Tagen jemanden über Tinder treffen wollen?«

»Nun ja. Dass sie damit warten sollten, bis der Vampirist gefasst ist.«

»Glauben Sie denn, dass er an Tinder festhält, nachdem er den Artikel gelesen hat und weiß, dass seine Methode jetzt allseits bekannt ist?«

»Eine Psychose ist nicht durch rationale Risikoerwägungen beeinflussbar. Wir haben es hier nicht mit dem klassischen Se­rienmörder zu tun, der in aller Ruhe sein Vorgehen plant. Er ist nicht der kaltblütige Psychopath, der keine Spuren hinterlässt und sich zwischen den Morden perfekt zu verstecken weiß.«

»Unsere Quelle meint, die Ermittlungsleitung gehe von einem klassischen Serienmörder aus.«

»Wir haben es hier mit einer anderen Form von Wahnsinn zu tun. Der Mord ist dem Biss untergeordnet, dem Blut. Das ist es, was ihn antreibt. Und er will unbedingt weitermachen, ist am Höhepunkt, er hat eine akute schwere Psychose. Es ist zu hoffen, dass er – im Gegensatz zu dem klassischen Serienmörder – schnell identifiziert und geschnappt wird, weil er außer Kon­trolle ist, und es ist ihm egal, ob er gefasst wird. Der klassische Serienmörder ist ebenso eine Naturkatastrophe wie der Vampirist. Beide sind ganz gewöhnliche Menschen, nur eben krank im Kopf. Aber während der Serienmörder ein Unwetter ist, das immer wieder an unterschiedlichen Orten ausbrechen kann, ist der Vampirist eine Lawine, die schnell vorbei ist, aber in der kurzen Zeit ein ganzes Dorf ausradieren kann, nicht wahr?«

»Stimmt«, sagte Mona und machte sich Notizen. Ein ganzes Dorf ausradieren. »Herr Smith, ich danke Ihnen. Ich denke, ich habe, was ich wollte.«

Smith breitete die Arme aus. »Das war doch nicht viel. Es wundert mich eigentlich, dass Sie dafür den Weg auf sich genommen haben.«

Mona Daa nahm ihr iPad. »Für die Fotos mussten wir sowieso vorbeikommen, da bin ich gleich mitgefahren. Willy?«

»Ich könnte mir ein Foto draußen auf den Feldern vorstellen«, sagte der Fotograf, der während des Interviews nichts gesagt hatte. »Sie vor den abgeernteten Feldern, dazu das schöne Mondlicht.«

Mona wusste natürlich, was der Fotograf beabsichtigte. Einsamer Mann nachts auf einem schwarzen Feld, Vollmond, Vampir. Sie nickte dem Kollegen unmerklich zu. Manchmal war es besser, den Menschen, die sie fotografierten, nicht zu sagen, was sie vorhatten. Man riskierte nur Einwände.