An der U-Bahn-Station Majorstua nahm Penelope die erste Bahn in Richtung Westen. In Hovseter, dem östlichsten und einfachsten der westlichen Stadtteile, stieg sie aus. Eine Siedlung mit Hochhäusern und relativ preiswerten Wohnungen, in der Roar und sie die billigste genommen hatten. Das Bad war schrecklich.
Roar hatte sie getröstet und ihr Just Kids von Patti Smith geschenkt, ein Memoir über zwei ambitionierte Künstler, die von Hoffnung, Luft und Liebe im New York der siebziger Jahre lebten und zum Schluss natürlich erfolgreich waren. Aber okay, auch ihre Beziehung war dabei draufgegangen. Wenigstens das.
Auf dem Weg vom U-Bahnhof zum ersten Wohnblock fiel ihr der seltsame Glorienschein auf, der ihn umgab. Der Vollmond musste jetzt direkt hinter dem Haus stehen, dachte sie.
Sie hatte mit vier Männern geschlafen, seit Roar sie vor elf Monaten und dreizehn Tagen verlassen hatte. Zwei davon waren besser gewesen als er, die anderen beiden schlechter. Aber sie hatte Roar auch nicht wegen Sex geliebt. Sondern weil … weil Roar … Ach, zum Henker mit ihm!
Ihre Schritte wurden schneller, als sie an dem kleinen Wäldchen, das links neben der Straße lag, vorbeiging, in Hovseter war schon bei Einbruch der Dunkelheit kaum noch jemand auf der Straße. Früher hätte Penelope, eine großgewachsene, sportliche Frau, nicht einmal im Traum daran gedacht, dass es abends gefährlich werden könnte. Vielleicht lag das an diesem Mörder, über den die Zeitungen schrieben. Oder nein, das war es nicht, eher die Tatsache, dass jemand in ihrer Wohnung gewesen war. Vor etwa drei Monaten. Zuerst war sie voller Hoffnung gewesen, dass das Roar war, der wieder zu ihr zurückwollte. Dass jemand in der Wohnung gewesen war, hatte sie an den Erdklumpen auf dem Boden im Flur erkannt, die nicht von ihren Schuhen stammen konnten. Und als sie auch vor der Kommode im Schlafzimmer Dreck gefunden hatte, war sie in der Hoffnung, dass Roar einen von ihren Slips mitgenommen hatte, ihre Unterwäsche durchgegangen. Es war aber alles da gewesen. Erst danach hatte sie bemerkt, dass die Schachtel mit dem Verlobungsring fehlte, den Roar ihr in London gekauft hatte. War doch ein Einbrecher in der Wohnung gewesen? Oder hatte Roar den Ring geklaut, um ihn dieser … Galeristin zu schenken? Penelope hatte ihn wütend angerufen und damit konfrontiert, aber er leugnete, da gewesen zu sein, und sagte, er habe beim Umzug die Schlüssel verloren, die er ihr ansonsten natürlich längst geschickt hätte. Lügen, natürlich, wie alles andere auch. Trotzdem hatte sie die Schlösser für die Haustür unten und für ihre Wohnungstür im vierten Stock austauschen lassen.
Penelope nahm die Schlüssel aus der Handtasche. Sie lagen neben dem Pfefferspray, das sie sich gekauft hatte. Sie schloss die Haustür auf und hörte die leise fauchende Hydraulik, als sich die Tür hinter ihr langsam zuzog. Der Aufzug stand in der sechsten Etage, weshalb sie die Treppe in den vierten Stock nahm. Sie ging an der Tür der Amundsens vorbei und blieb stehen, weil sie außer Atem war. Merkwürdig, sie war gut trainiert, die Treppe machte ihr doch sonst nichts aus. Irgendetwas stimmte nicht, aber was?
Sie sah nach oben zu ihrer Wohnungstür.
Die Wohnblöcke waren für die vor langer Zeit noch existierende Arbeiterklasse im Osloer Westen gebaut worden, und dabei war auch am Licht gespart worden. Es gab nur eine einzelne Deckenlampe auf jeder Etage. Penelope hielt den Atem an und lauschte. Sie hatte nichts gehört, seit sie das Treppenhaus betreten hatte.
Nicht seit der Hydraulik der Tür.
Keinen Laut.
Und genau das war falsch.
Sie hatte die Tür nicht ins Schloss fallen hören.
Penelope kam nicht mehr dazu, sich umzudrehen oder die Hand in die Tasche zu stecken. Sie schaffte nichts mehr, ehe ein Arm von hinten sich so fest um ihren Oberkörper legte, dass es ihr die Luft aus den Lungen presste. Ihre Tasche fiel auf die Treppe und war das Einzige, was sie traf, als sie wild um sich trat. Sie schrie lautlos in die Hand, die sich über ihren Mund gelegt hatte und nach Seife roch.
»So, so, Penelope«, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. »Im W-Weltraum kann dich keiner hören, weißt du?« Er machte einen Zischlaut.
Unten an der Eingangstür war ein Klatschen zu hören, und für einen Augenblick hoffte sie, dass jemand kam, doch dann wurde ihr bewusst, dass das ihre Tasche mit dem Pfefferspray gewesen sein musste, die durch die Geländerstäbe gerutscht und unten im Erdgeschoss aufgekommen war.
»Was ist?«, fragte Rakel, ohne sich umzudrehen oder damit aufzuhören, Salat zu schneiden. Sie hatte in der Spiegelung im Fenster über der Anrichte gesehen, dass Harry nicht mehr den Tisch deckte, sondern ans Wohnzimmerfenster getreten war.
»Ich dachte, ich hätte was gehört«, sagte er.
»Bestimmt Oleg und Helga.«
»Nein, das war etwas anderes, es war … etwas anderes.«
Rakel seufzte. »Harry, du bist gerade erst nach Hause gekommen und schon wieder … nervös. Siehst du, was das mit dir macht?«
»Nur dieser eine Fall, dann ist es vorbei.« Harry kam zur Anrichte und küsste sie in den Nacken. »Wie fühlst du dich?«
»Gut«, log sie. Ihr ganzer Körper tat weh, der Kopf, das Herz.
»Du lügst«, sagte er.
»Und, lüge ich gut?«
Lächelnd massierte er ihr den Nacken.
»Wenn ich nicht mehr bin«, sagte sie. »Würdest du dir eine andere suchen?«
»Eine andere suchen? Klingt ganz schön anstrengend. Es war schwer genug, dich zu überzeugen.«
»Eine Jüngere. Eine, mit der du Kinder haben könntest. Ich könnte ja nicht mehr eifersüchtig werden, weißt du.«
»Du lügst nicht so gut, Liebste.«
Sie lachte, ließ das Messer fallen, senkte den Kopf und spürte, wie seine warmen, trockenen Finger den Schmerz wegmassierten und ihr einen Moment Ruhe gönnten.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Hm?«
»Ich liebe dich. Besonders, wenn du mir einen Tee kochst.«
»Aye, aye, Chef.«
Harry ließ sie los, und Rakel blieb abwartend stehen. Voller Hoffnung, aber nein, die Schmerzen kamen wieder, unerbittlich wie ein Faustschlag.
Harry stützte sich mit beiden Händen auf die Anrichte und starrte auf den Wasserkocher. Wartete auf das leise Blubbern, das lauter und lauter werden würde, bis die ganze Kanne zitterte. Als würde sie schreien. Er hörte Schreie. Stumme Schreie, die seinen Kopf erfüllten, den Raum, seinen Körper. Er verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Die Schreie wollten raus, mussten raus. Wurde er verrückt? Er hob den Blick zum Fenster, sah in der dunklen Scheibe aber nur sein eigenes Spiegelbild. Er war es. Er war da draußen. Er wartete auf sie. Er sang. Kommt raus und spielt mit mir!
Harry schloss die Augen.
Nein, er wartete nicht auf sie. Er wartete auf ihn. Auf Harry. Komm raus und spiel mit mir!
Sie war anders als die anderen. Penelope Rasch wollte leben. Sie war groß und stark. Und die Tasche mit dem Wohnungsschlüssel lag nun drei Etagen unter ihnen. Er spürte, wie die Luft aus ihren Lungen gedrückt wurde, und verstärkte den Griff um ihre Brust. Wie eine Würgeschlange. Eine Boa Constrictor. Ein einziger Muskel, der sich umso mehr anspannte, je mehr Luft die Beute ausatmete. Er wollte sie lebend. Vital und warm. Um ihren wunderbaren Lebenswillen Stück für Stück zu brechen. Aber wie? Wenn er sie mit sich nach unten schleifte, um sich die Schlüssel zu holen, riskierte er, dass einer der Nachbarn sie hörte und Alarm schlug. Er spürte Wut in sich aufsteigen. Er hätte Penelope Rasch auslassen sollen. Hätte das schon erkennen müssen, als er vor drei Tagen festgestellt hatte, dass die Schlösser ausgetauscht worden waren? Aber dann war ihm das Glück hold gewesen, und er hatte über Tinder mit ihr Kontakt aufnehmen können. Sie hatte eingewilligt, sich an diesem diskreten Ort zu treffen, und er hatte gedacht, dass es doch irgendwie klappen würde. Aber ein diskreter Ort bedeutete auch, dass die wenigen, die dort waren, umso mehr auffielen. Und ein Gast hatte ihn einen Moment zu lang angeschaut, weshalb er zu sehr gedrängt hatte, dort wegzukommen. Penelope war zickig geworden und gegangen.