Truls sah zu dem Haus hoch, das oben am Hang im Mondlicht badete.
Hinter den Fenstern brannte Licht. Er wusste, dass Ulla zu Hause war. Vielleicht saß sie wie so oft auf dem Sofa, die Beine angezogen, und las ein Buch. Wenn er das Fernglas mit auf die Anhöhe im Wald nähme, könnte er es herausfinden. Und wenn sie auf dem Sofa säße, könnte er auch sehen, wie sie ihre blonden Haare hinter ein Ohr strich, als lauschte sie auf etwas. Waren die Kinder aufgewacht, wollte Mikael etwas, oder war sie nur wachsam wie eine Gazelle am Wasserloch angesichts möglicher Raubtiere?
Es knackte und rauschte, Stimmen waren zu hören, dann war alles wieder still. Die Geräusche einer Stadt, vermittelt über den Polizeifunk, beruhigten ihn mehr als Musik.
Truls starrte auf das offene Handschuhfach. Das Fernglas lag hinter der Dienstwaffe. Er hatte sich auferlegt, damit aufzuhören. Es war an der Zeit, er brauchte das jetzt nicht mehr, schließlich hatte er herausgefunden, dass es noch andere Fische im Teich gab. Na ja, Seeteufel, Seeskorpione und Petermännchen. Truls grunzte. Diesem Lachen hatte er seinen Spitznamen Beavis zu verdanken, und seinem kräftigen Unterbiss. Und da oben saß sie, gefangen in dem viel zu großen, teuren Haus, mit der Terrasse, die Truls gegossen und in die er die Leiche eines Drogendealers einbetoniert hatte. Nur Truls wusste davon, was ihm aber keine schlaflosen Nächte bereitete.
Ein Krächzen im Funkgerät. Stimmen aus der Kriminalwache.
»Haben wir einen Wagen in der Nähe von Hovseter?«
»31 ist in Skøyen.«
»Hovseterveien 44, Eingang B. Hysterische Hausbewohner, die sagen, dass ein Verrückter im Hausflur eine Frau misshandelt, sie sich aber nicht trauen einzugreifen, weil es im Treppenhaus ganz dunkel ist. Er soll eine Lampe zerschlagen haben.«
»Mit einer Waffe misshandelt?«
»Sie wissen es nicht. Sie haben durchgegeben, dass er sie gebissen hat, bevor es dunkel wurde. Die Anrufer heißen Amundsen.«
Truls reagierte sofort und drückte den Sprechknopf. »Kommissar Truls Berntsen hier, ich bin näher dran, ich kümmere mich darum.«
Er hatte den Motor bereits angelassen, gab Gas und fuhr auf die Straße. Ein Wagen, der knapp hinter seinem um die Kurve gebogen war, hupte wütend.
»Okay«, kam es von der Einsatzzentrale. »Und wo sind Sie, Berntsen?«
»Ganz in der Nähe, habe ich doch gesagt. 31, ich will Sie als Backup. Warten Sie, falls Sie doch vor mir da sind. Es ist möglich, dass der Täter bewaffnet ist. Wiederhole, bewaffnet.«
Samstagabend, fast kein Verkehr. Mit Vollgas durch den Operatunnel, der in einem leichten Bogen unter dem Fjord verlief und am Zentrum vorbeiführte. Er lag höchstens sieben oder acht Minuten hinter 31. Diese Minuten konnten natürlich kritisch sein – für das Opfer ebenso wie für die Ergreifung des Täters. Andererseits war Kommissar Truls Berntsen so vielleicht der Polizist, der den Vampiristen verhaftete. Ganz zu schweigen davon, was die VG für den Bericht desjenigen zahlen würde, der als Erster am Tatort war. Er drückte auf die Hupe, und ein Volvo machte Platz. Erst zwei Spuren, dann drei. Vollgas. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen, eine Tunnelkamera blitzte. Polizist im Dienst – die Lizenz, alle in dieser Scheißstadt zur Hölle schicken zu dürfen. Im Dienst. Das Blut pumpte kraftvoll durch seine Adern, wohltuend, als bekäme er einen Ständer.
»Ace of space!«, brüllte Truls. »Ace of space!«
»Ja, wir sind die 31, wir warten hier jetzt schon seit Minuten.« Der Mann und die Frau standen hinter dem Streifenwagen, den sie direkt vor Eingang B abgestellt hatten.
»Ich hatte so einen langsamen Lastwagen vor mir, der mich einfach nicht vorbeilassen wollte«, sagte Truls und überprüfte, ob die Pistole geladen und das Magazin voll war. »Haben Sie etwas gehört?«
»Da drinnen ist es still. Es ist keiner rein- oder rausgegangen.«
»Dann los.« Truls zeigte auf den Polizisten. »Sie gehen mit mir. Nehmen Sie eine Taschenlampe mit.« Er nickte der Frau zu. »Und Sie halten hier draußen die Stellung.«
Die zwei Männer gingen auf den Eingang zu. Truls sah durch das Fenster in das dunkle Treppenhaus und drückte dann auf die Klingel der Amundsens.
»Ja?«, flüsterte eine Stimme.
»Polizei. Haben Sie etwas gehört, seit Sie uns alarmiert haben?«
»Nein, aber er kann noch immer da sein.«
»Okay. Machen Sie auf.«
Das Schloss summte, und Truls drückte die Tür auf. »Sie gehen vor und leuchten.«
Truls hörte den Polizisten schlucken. »Ich dachte, Sie hätten was von Backup gesagt, nicht Vorhut.«
»Seien Sie froh, dass Sie nicht allein sind«, flüsterte Truls. »Los, kommen Sie.«
Rakel sah zu Harry hinüber.
Zwei Morde. Ein neuer Serienmörder. Sein Fall.
Er saß da und aß, tat so, als folgte er dem Gespräch am Tisch, war höflich zu Helga und reagierte interessiert auf alles, was Oleg sagte. Vielleicht irrte sie sich, vielleicht interessierte ihn das Gespräch wirklich. Vielleicht war er doch noch nicht ganz in den Bann gezogen worden, vielleicht hatte er sich verändert.
»Waffenkontrollen werden doch sinnlos, wenn sich jeder irgendwann einen 3-D-Drucker kaufen und seine eigenen Pistolen herstellen kann«, sagte Oleg.
»Ich dachte, 3-D-Drucker könnten nur Sachen aus Plastik machen«, sagte Harry.
»Die einfachen, ja. Aber Plastik reicht ja auch vollkommen aus, wenn du dir nur eine simple Einweg-Schusswaffe bauen willst, um jemanden zu erschießen.« Oleg beugte sich voller Eifer vor. »Du musst nicht mal selbst eine Waffe haben, um sie kopieren zu können. Man kann sich für fünf Minuten eine leihen, sie auseinanderbauen und Wachsabdrücke von den Einzelteilen machen. Davon 3-D-Datenfiles erstellen und mit denen dann über den PC den Printer füttern. Nach dem Mord kannst du die Plastikwaffe dann ganz einfach einschmelzen. Und sollte die Polizei trotzdem herausfinden, dass das die Waffe war, ist sie wenigstens nicht registriert.«
»Hm. Aber die Pistole kann möglicherweise zu dem Drucker führen, mit dem sie gemacht worden ist. Bei einigen Tintenstrahldruckern kann man die Ausdrucke schon heute zu den Druckern zurückverfolgen.«
Rakel sah zu Helga, die etwas verloren dreinblickte.
»Jungs …«, sagte Rakel.
»Egal«, sagte Oleg. »Das ist echt verrückt, diese Dinger können alles. Bis jetzt sind in Norwegen gerade mal zweitausend Printer verkauft worden, aber stell dir mal vor, wie das ist, wenn jeder so ein Ding hat. Dann könnten Terroristen eine H-Bombe ausdrucken.«
»Jungs, können wir nicht über etwas Erfreulicheres reden?« Rakel fühlte sich seltsam kurzatmig. »Schließlich haben wir Besuch.«
Oleg und Rakel schauten zu Helga, die lächelnd mit den Schultern zuckte, als wollte sie sagen, dass ihr alles recht sei.
»Okay«, sagte Oleg. »Wir wär’s mit Shakespeare?«
»Hört sich schon besser an«, sagte Rakel und sah misstrauisch zu ihrem Sohn hinüber, ehe sie Helga die Kartoffeln reichte.
»Okay, dann kommen wir zu Ståle Aune und dem Othello-Syndrom«, sagte Oleg. »Ich habe noch nicht erzählt, dass Jesus und ich die ganze Vorlesung aufgenommen haben. Ich hatte ein verstecktes Mikrofon und einen Sender unter dem Hemd, und Jesus hat im Kolloquienraum gesessen und alles aufgezeichnet. Glaubst du, Ståle fände es in Ordnung, wenn wir die Aufnahme ins Netz stellen? Harry?«
Harry antwortete nicht. Rakel musterte ihn. Entfernte er sich wieder von ihnen?
»Harry?«, fragte sie.
»Das kann ich nicht beantworten«, sagte er mit Blick auf seinen Teller. »Aber warum habt ihr die Vorlesung nicht einfach mit eurem Handy aufgenommen? Vorlesungen für den privaten Gebrauch aufzuzeichnen ist ja erlaubt.«
»Sie üben«, sagte Helga.
Die anderen drehten sich zu ihr um.
»Jesus und Oleg träumen davon, undercover zu arbeiten«, sagte sie.
»Wein, Helga?« Rakel hob die Flasche an.