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Harry räusperte sich. »Jetzt bist du dran, Finne. Wo versteckt Valentin sich?«

»Ihr wart früher schon mal hier und habt das gefragt, und ich kann nur wiederholen, dass ich mit Valentin kaum gesprochen habe, als er hier einsaß. Außerdem ist es fast vier Jahre her, dass er hier ausgebrochen ist.«

»Seine Methoden ähneln deinen. Es gibt Leute, die behaupten, du hättest ihn angelernt.«

»Unsinn. Valentin ist fertig ausgebildet auf die Welt gekommen. Glaub mir.«

»Wo würdest du dich verstecken, wenn du an seiner Stelle wärst?«

»So nah, dass ich innerhalb deines Blickfeldes wäre, Hole. Ich wäre dieses Mal auf alles vorbereitet.«

»Er wohnt in der Stadt? Bewegt sich in der Stadt? Neue Identität? Ist er allein, oder arbeitet er mit jemandem zusammen?«

»Er macht es jetzt anders, oder? Dieses Beißen und Blutsaufen. Vielleicht ist das ja gar nicht Valentin.«

»Es ist Valentin. Also, wie kann ich ihn fassen?«

»Du fasst ihn nicht.«

»Nicht?«

»Der stirbt lieber, als noch einmal hier zu landen. Ihm waren Phantasien nie genug, er musste es tun

»Hört sich an, als würdest du ihn doch kennen.«

»Ich kenne das Holz, aus dem er geschnitzt ist.«

»Dasselbe wie bei dir? Hormone aus der Hölle?«

Der alte Mann zuckte mit seinen breiten Schultern. »Jeder weiß, dass die freie, moralische Wahl eine Illusion ist. Die Chemie im Hirn steuert unser Verhalten. Das ist bei dir nicht anders als bei mir, Hole. Einige Menschen erhalten Diagnosen wie ADHS oder Angststörung und werden mit Medikamenten und Trost behandelt. Andere erhalten die Diagnose ›Kriminell‹ und werden weggesperrt. Im Grunde ist das aber alles dasselbe. Eine unglückliche Zusammensetzung der Stoffe im Hirn. Ich bin ja dafür, dass wir weggesperrt werden. Verdammt, wir vergewaltigen schließlich eure Töchter.« Finne lachte trocken. »Also, holt uns von den Straßen, droht uns mit Strafe, damit wir nicht tun, wozu uns die Hirnchemie sonst zwingt. Was das Ganze so schrecklich dramatisch macht, ist eure Feigheit. Warum braucht ihr einen moralischen Vorwand, um uns einzusperren? Warum auf Grundlage einer göttlichen Gerechtigkeit, einer allgemeingültigen, ewigen Moral diese Lügengeschichten von der freien Wahl und der heiligen Strafe? Die Moral ist weder ewig noch universell, sie ist verdammt abhängig vom Zeitgeist, Hole. Vor tausend Jahren waren Männer, die es mit Männern trieben, noch ganz okay, dann wanderten sie dafür ins Gefängnis, während die Politiker jetzt gemeinsam mit ihnen auf die Straße gehen. Das alles hängt doch nur davon ab, was die Gesellschaft braucht oder nicht braucht. Die Moral ist flexibel, sie richtet sich immer nur nach dem Nutzen. Mein Problem ist, dass ich in einer Zeit und in einem Land geboren wurde, in dem es unerwünscht ist, dass ein Mann seinen Samen ungehemmt verbreitet. Nach einer Pandemie, wenn alle Arten wieder auf die Beine kommen müssen, wäre Svein ›Verlobter‹ Finne eine Stütze der Gesellschaft, die Rettung der Menschheit. Oder was meinst du, Hole?«

»Du hast den Frauen gedroht, sollten sie deine Kinder nicht austragen«, sagte Harry. »Valentin ermordet sie. Warum willst du mir da nicht helfen, ihn zu schnappen?«

»Helfe ich dir denn nicht?«

»Das ist mir alles zu allgemein und halbgar. Wenn du uns hilfst, lege ich ein gutes Wort für dich ein. Vielleicht musst du dann ja ein paar Jahre weniger sitzen.«

Harry hörte, wie Wyller mit den Sohlen über den Boden fuhr.

»Wirklich?« Finne strich sich den Bart glatt. »Obwohl du weißt, dass ich wieder zu vergewaltigen anfange, sobald ich draußen bin? Du musst diesen Valentin wirklich schnappen wollen, sonst würdest du nicht die Ehre so vieler Frauen aufs Spiel setzen. Aber wahrscheinlich kannst du nicht anders.« Er tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. »Chemie …«

Harry antwortete nicht.

»Egal«, sagte Finne. »Ich habe meine Strafe nächsten März abgesessen, am ersten Samstag des Monats, dein Angebot ist also nicht wirklich attraktiv, es kommt zu spät. Außerdem hatte ich vor ein paar Wochen schon meinen ersten Freigang. Und weißt du was? Ich habe mich hierher zurückgesehnt. Also nein danke. Sag mir lieber, wie es mit dir läuft, Hole. Wie ich gehört habe, bist du verheiratet? Und hast einen Hurensohn? Wohnt ihr auch sicher?«

»Hm. Ist das alles, was du sagen willst, Finne?«

»Ja, aber ich werde mit Interesse verfolgen, wie das mit euch läuft.«

»Mit mir und Valentin?«

»Mit dir und deiner Familie. Ich hoffe, du gehörst zum Empfangskomitee, wenn ich rauskomme.« Finnes Lachen wurde zu einem feuchten Husten.

Harry stand auf und machte Wyller ein Zeichen, dass er an die Tür klopfen solle. »Danke für deine kostbare Zeit, Finne.«

Finne hob die rechte Hand vor sein Gesicht und winkte. »Auf Wiedersehen, Hole. Es freut mich, dass wir ein bisschen über unsere Z-Zukunftspläne reden konnten.«

Harry sah das hämische Lachen durch das Loch in der Hand.

Kapitel 15

Sonntagabend

Rakel saß am Küchentisch. Die Schmerzen, die sie mit Lärm und hektischer Betriebsamkeit verdrängen konnte, kamen wieder und waren nicht mehr zu ignorieren. Sie kratzte sich am Arm. Der Ausschlag war gestern noch kaum zu sehen gewesen. Als der Arzt sie gefragt hatte, ob sie regelmäßig Wasser ließ, hatte sie automatisch mit Ja geantwortet, doch jetzt, da sie dafür eine größere Aufmerksamkeit hatte, wurde ihr bewusst, dass sie in den letzten zwei Tagen kaum auf der Toilette gewesen war. Und sie bekam kaum Luft, fühlte sich schlapp, dabei war sie doch ­eigentlich körperlich fit.

Sie hörte das Klackern von Schlüsseln und stand auf.

Die Haustür ging auf, und Harry kam herein. Er sah blass und müde aus.

»Ich muss gleich wieder los, will mir nur kurz saubere Sachen anziehen«, sagte er, streichelte ihr über die Wange und hastete die Treppe hoch.

»Wie läuft’s?«, fragte sie und sah ihn oben in ihrem Schlafzimmer verschwinden.

»Gut!«, rief er. »Wir wissen jetzt, wer es ist.«

»Ist es dann nicht an der Zeit, nach Hause zu kommen?«, fragte sie halblaut, halbherzig.

»Was?« Sie hörte Trampeln und wusste, dass er sich wie ein Kind die Hose von den Beinen trat. Oder wie ein Besoffener.

»Wenn du mit deinem großen, übermächtigen Hirn den Fall gelöst hast …«

»Das ist es ja.« Er erschien oben in der Tür mit einem leichten Wollpulli bekleidet und stützte sich im Rahmen ab, während er sich dünne Wollsocken anzog. Sie hatte ihn schon oft damit aufgezogen, dass nur alte Männer sommers wie winters Wolle trugen. Es sei die beste Überlebensstrategie, in jeder Lebenslage alte Männer zu kopieren, schließlich hätten die den Sieg davongetragen, war seine Antwort darauf.

»Ich habe gar nichts gelöst. Er hat seine Identität selbst preisgegeben.« Harry richtete sich in der Tür auf und klopfte seine Hosentaschen ab. »Die Schlüssel«, sagte er und verschwand noch einmal im Schlafzimmer.

»Ich habe in der Ullevål-Klinik Dr. Steffens kennengelernt«, rief er. »Er hat gesagt, dass er dich behandelt

»Ach ja? Du, Liebster? Kann es sein, dass du ein paar Stunden Schlaf brauchst? Deine Schlüssel stecken hier unten in der Tür, du hast sie offen gelassen.«

»Du hast doch gesagt, du wärst nur zu einer Untersuchung da gewesen?«

»Und wo ist da der Unterschied?«

Harry kam erneut aus dem Schlafzimmer, lief die Treppe herunter und umarmte sie. »Eine Untersuchung ist was Einmaliges, eine Behandlung dauert. Nach meinem Verständnis kommt die Behandlung erst, wenn etwas gefunden wurde.«

Rakel lachte und lehnte sich an ihn. »Die Kopfschmerzen habe ich selbst entdeckt, und die brauchen eine Behandlung, Harry. Und zwar mit Kopfschmerztabletten.«