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Er schob sie ein Stück von sich weg und musterte sie. »Du würdest mir doch nichts verheimlichen, oder?«

»Hast du für so einen Unsinn wirklich Zeit?« Rakel drehte unter Schmerzen ihren Kopf, biss ihm ins Ohr und schob ihn in Richtung Tür. »Sieh zu, dass du deinen Job erledigt kriegst, und dann kommst du nach Hause zu Mama. Sonst besorge ich mir so einen 3-D-Drucker und drucke mir einen häuslichen Mann aus. Aus weißem Plastik.«

Harry lächelte und ging zur Tür. Zog den Schlüsselbund aus dem Schloss, blieb dann aber stehen und starrte ihn an.

»Was?«, fragte Rakel.

»Er hatte die Schlüssel zu Elise Hermansens Wohnung«, sagte Harry und zog die Beifahrertür zu. »Und vermutlich auch die von Ewa Dolmen.«

»Sicher?«, fragte Wyller, löste die Handbremse und fuhr langsam aus der Einfahrt. »Wir haben alle registrierten Schlüsseldienste überprüft. Für die beiden Adressen ist nie ein Systemschlüssel nachgemacht worden.«

»Weil er den selbst gemacht hat. Aus weißem Plastik.«

»Aus weißem Plastik?«

»Mit einem ganz normalen 3-D-Drucker für fünfzehntausend Kronen, wie er auf deinem Schreibtisch steht. Er brauchte dafür lediglich ein paar Sekunden Zugang zu den Originalschlüsseln. Er kann ein Foto oder einen Wachsabdruck gemacht haben, um daraus dann ein 3-D-File zu generieren. Als Elise Hermansen nach Hause kam, war er schon in ihrer Wohnung. Sie hatte die Kette vorgelegt, weil sie glaubte, allein zu sein.«

»Und wie soll er an ihre Schlüssel gekommen sein? Keines der Häuser, in denen die Opfer lebten, hat einen Wachdienst. Da gab es überall eigene Hausmeister. Und die haben alle ein Alibi und leugnen, die Schlüssel jemals aus den Händen gegeben zu haben.«

»Ich weiß. Ich habe keine Ahnung, wie das abgelaufen ist, nur dass es so gewesen ist.«

Harry brauchte den jungen Kollegen nicht anzusehen, um zu wissen, wie skeptisch er war. Es gab Hunderte andere Erklärungen dafür, dass Elise Hermansen die Kette vorgelegt hatte. Harrys Schlussfolgerung schloss keine dieser anderen Möglichkeiten aus. Holzschuh, Harrys pokernder Freund, meinte, es sei nichts leichter zu lernen als Wahrscheinlichkeitsrechnung und wie man nach Lehrbuch seine Karten legte. Der Unterschied zwischen guten und weniger guten Spielern sei dann die Fähigkeit, seine Gegner zu lesen. Dafür müsse man unzählige Informationen verarbeiten, so als wollte man aus einem brüllenden Sturm ein Flüstern herausfiltern. Vielleicht hatte er recht. In all dem, was Harry über Valentin Gjertsen wusste, in all den Berichten, den Erfahrungen von anderen Serienmorden, bei all den Opfern, die er im Laufe der Jahre nicht hatte retten ­können und die ihn heimsuchten, vernahm auch er eine flüsternde Stimme. Valentin Gjertsens Stimme. Er hatte sie alle rechts überholt und war ihnen jetzt so nah, dass sie ihn nicht sahen.

Harry griff zum Telefon. Katrine antwortete beim zweiten Klingeln.

»Ich sitze in der Maske«, sagte sie.

»Ich glaube, Valentin besitzt einen 3-D-Drucker. Und der kann uns zu ihm führen.«

»Wie das?«

»Elektrogeschäfte registrieren Namen und Adressen von Kunden, wenn der Kaufbetrag eine gewisse Summe überschreitet. Und in Norwegen sind bislang nur ein paar tausend 3-D-Drucker verkauft worden. Wenn alle in der Gruppe mitmachen und alles andere ruhen lassen, woran sie gerade arbeiten, haben wir im Laufe von vierundzwanzig Stunden eine Übersicht und können sicher 95 Prozent der Käufer als Täter ausschließen. Dann sollten wir nur noch rund zwanzig Namen auf der Liste haben. Falsche Namen oder Pseudoidentitäten finden wir raus, wenn diese Leute im Einwohnermeldeamt nicht unter der angegebenen Adresse vermerkt sind. Oder wenn sie bei einem möglichen Anruf bestreiten, einen 3-D-Drucker zu besitzen. Die meisten Elektrogeschäfte haben zudem Überwachungskameras, so dass wir die Verdächtigen zum Zeitpunkt des Kaufes überprüfen können. Außerdem gibt es eigentlich keinen Grund, warum er nicht in ­einen Laden ganz in der Nähe seiner Wohnung gegangen sein sollte. Dann wissen wir, wo wir suchen müssen.«

»Wie bist du auf das mit dem 3-D-Drucker gekommen, Harry?«

»Ich habe mit Oleg über Drucker und Waffen gesprochen und …«

»Alles andere ruhen lassen, Harry? Um auf etwas zu setzen, auf das du gekommen bist, als du mit Oleg geredet hast?«

»Genau.«

»Ich glaube, das ist genau eine dieser Alternativ-Spuren, denen du mit deiner Guerillatruppe folgen solltest, Harry.«

»Die besteht bis jetzt aber nur aus mir. Ich brauche deine Ressourcen.«

Harry hörte Katrines Lachen. »Wenn du nicht Harry Hole heißen würdest, hätte ich längst aufgelegt.«

»Dann ist es ja gut, dass ich so heiße. Hör mal, wir suchen jetzt seit drei Jahren nach Valentin Gjertsen. Ohne jeden Erfolg. Das ist die einzige neue Spur, die wir haben.«

»Gib mir bis nach dem Interview Zeit, um dazu etwas zu sagen. Es geht hier gleich los, und ich muss an so viele Dinge denken. Außerdem bin ich, um ehrlich zu sein, verdammt nervös.«

»Hm.«

»Einen Tip für einen Fernsehneuling?«

»Lehn dich zurück und sei entspannt, genial und witzig.«

Er konnte sie lächeln hören. »Wie du das immer im Fernsehen machst?«

»Ich war nichts davon. Und – ach ja – sei nüchtern!«

Harry steckte das Handy in die Jackentasche. Sie näherten sich dem … Ort. Der Kreuzung Slemdalsveien, Rasmus Winderens vei in Vinderen. Als die Ampel rot wurde und sie anhielten, konnte Harry es nicht lassen. Wie er es nie lassen konnte. Er warf einen Blick auf die Haltestelle auf der anderen Seite der U-Bahn. Dort hatte er vor einem halben Leben bei einer Verfolgungsjagd die Kontrolle über den Streifenwagen verloren, war darin quer über die Gleise geflogen und an den Beton geknallt. Der Kollege auf dem Beifahrersitz war sofort tot. Wie betrunken war er gewesen? Harry hatte keinen Alkoholtest machen müssen, und in dem Bericht, der anschließend geschrieben wurde, stand, dass er auf dem Beifahrersitz und nicht auf dem Fahrersitz gesessen hatte. Alles zum Besten der Truppe.

»Hast du das gemacht, um Leben zu retten?«

»Was?«, fragte Harry.

»Im Dezernat für Gewaltverbrechen gearbeitet«, sagte Wyller. »Oder um Mörder dingfest zu machen?«

»Hm. Denkst du an das, was der Verlobte gesagt hat?«

»Nein, ich musste an deine Vorlesung denken. Ich dachte, du wärst Mordermittler gewesen, weil du den Job ganz einfach geliebt hast.«

Harry schüttelte den Kopf. »Ich habe das gemacht, weil es das Einzige ist, was ich wirklich kann, ich habe den Job gehasst.«

»Wirklich?«

Harry zuckte mit den Schultern, als die Ampel auf Grün schaltete. Sie fuhren weiter in Richtung Majorstua. Die Abenddämmerung kroch ihnen aus dem Osloer Kessel förmlich entgegen.

»Lass mich an der Kneipe da raus«, sagte Harry. »Da, wo das erste Opfer war.«

Katrine stand hinter den Kulissen und betrachtete die kleine, leere Insel im Zentrum des Scheinwerferlichts. Sie bestand aus einem mit schwarzen Dielen ausgelegten Viereck, auf dem drei Sessel und ein Tisch standen. In einem der Sessel saß der Moderator des Sonntagsmagazins, der sie gleich als ersten Gast ankündigen würde. Hallstein Smith würde der zweite sein. Katrine versuchte, nicht an die unzähligen Augen zu denken, oder dar­an, wie sehr ihr Herz hämmerte. Und auch nicht daran, dass Valentin jetzt irgendwo dort draußen war und sie ihn nicht daran hindern konnten, wieder zuzuschlagen, so genau sie auch wussten, wer der Täter war. Stattdessen dachte sie an das, was Bellman ihr mitgegeben hatte: Sie sollte überzeugend und sicher vorbringen, dass der Fall aufgeklärt sei. Dass der Täter sich allerdings noch auf freiem Fuß befinde und es möglich sei, dass er sich mittlerweile ins Ausland abgesetzt habe.

Katrine sah zu der Aufnahmeleiterin hinüber, die mit Clipboard und Headset zwischen den Kameras und der Insel stand und rief, dass es noch zehn Sekunden bis zum Beginn der Sendung waren. Dann begann der Countdown. Ganz spontan musste sie an den idiotischen kleinen Zwischenfall denken, der sich am Tag zugetragen hatte. Vielleicht weil sie müde und nervös war, vielleicht aber auch, weil ihr Hirn Zuflucht zu solchen Bagatellen suchte, wenn es sich auf etwas konzentrieren sollte, das ihm zu groß erschien und Angst machte. Sie war zu Bjørn in die Kriminaltechnik gefahren und hatte ihn gebeten, die Analyse der technischen Spuren aus dem Treppenhaus prioritär zu behandeln, damit sie im Fernsehen überzeugender auftreten konnte. Da Sonntag war, war die Kriminaltechnik ziemlich verwaist gewesen, und die wenigen, die dort waren, arbeiteten an den Vampiristenmorden. Möglicherweise waren es die leeren Räume, die Katrine so aus dem Konzept gebracht hatten. Als sie wie gewöhnlich direkt in Bjørns Büro marschiert war, hatte eine Frau dicht neben Bjørn gestanden und sich tief über seinen Stuhl gebeugt. Es musste etwas Lustiges geschehen oder gesagt worden sein, denn die Frau und Bjørn lachten. Als sie Katrine bemerkten und sich zu ihr umdrehten, hatte sie in der Frau die neue Chefin der Kriminaltechnik erkannt. Irgendeine Lien. Ka­trine wusste noch genau, was sie gedacht hatte, als Bjørn ihr von der Neuanstellung erzählt hatte. Die Frau sei viel zu jung und unerfahren. Eigentlich hätte Bjørn den Job kriegen müssen. Oder besser gesagt: Eigentlich hätte Bjørn ihn annehmen müssen, schließlich hatten sie ihm den Job angeboten. Aber seine Antwort war ein klassischer Bjørn Holm gewesen: Warum einen guten Kriminaltechniker ziehen lassen, um einen schlechten Chef zu bekommen? So gesehen war Frau oder Fräulein Lien bestimmt eine gute Wahl. Allerdings hatte Katrine auch noch nicht gehört, dass diese Lien sich irgendwo fachlich ausgezeichnet hätte. Katrine hatte ihr Anliegen vorgebracht, und Bjørn hatte ruhig geantwortet, dass seine Chefin für die Prioritätensetzung zuständig sei. Und Lien hatte mit aufgesetzt wohlwollendem Lächeln erwidert, dass sie mit den anderen Kriminaltechnikern schauen wolle, wann sie die Analysen fertig haben könnten. Katrine war der Kragen geplatzt. Sie hatte sich lauthals beschwert, dass »schauen wolle« nicht gut genug sei. Die Vampiristenmorde seien der wichtigste Fall, was jeder, der auch nur einen Funken Erfahrung habe, auch sehen würde. Und dass es im Fernsehen schlecht rüberkäme, wenn sie keine Antwort geben könne, weil die neue Chefin der Kriminaltechnik den Fall nicht als wichtig genug erachte.