Und Berna Lien – ja, jetzt fiel ihr auch der Vorname wieder ein, weil sie wie diese Bernadette aus The Big Bang Theory aussah, klein, mit Brille und viel zu großen Brüsten – hatte geantwortet: »Wenn ich Ihnen diese Priorität einräume, versprechen Sie mir dann, niemandem gegenüber zu erwähnen, dass ich die Kindesmisshandlung in Aker oder die Ehrenmorde in Stovner nicht als wichtig genug erachte?« Wie aufgesetzt ihre Stimme dabei war, hatte Katrine erst erkannt, als Lien in normalem, ernstem Ton hinzugefügt hatte: »Ich bin natürlich auch der Meinung, dass es besonders eilig ist, wenn wir so weitere Morde verhindern können, Bratt. In meinen Augen ist aber nur das ein gewichtiges Argument und nicht Ihr Fernsehauftritt. Ich sage Ihnen in zwanzig Minuten Bescheid, okay?«
Katrine hatte nur genickt und war zurück ins Präsidium gefahren, wo sie sich auf der Damentoilette eingeschlossen und die Schminke abgewischt hatte, die sie aufgetragen hatte, bevor sie in die Kriminaltechnik gefahren war.
Die Erkennungsmelodie begann, und der Moderator – der bereits mit geradem Rücken dasaß – richtete sich noch weiter auf, während er die Gesichtsmuskulatur mit wiederholtem, übertrieben breitem Lächeln, das er bei dem Thema des Abends sicher nicht brauchen würde, aufwärmte.
Katrine spürte das Handy in ihrer Hose vibrieren. Als Leiterin einer Ermittlung, bei der sie immer erreichbar sein musste, hatte sie die Aufforderung ignoriert, das Handy während der Sendung ganz auszuschalten. Es war eine SMS von Bjørn.
»Treffer bei einem Fingerabdruck an der Haustür von Penelope. Es ist Valentin Gjertsen. Ich gucke jetzt fern. Toi, toi, toi.«
Katrine nickte der Frau neben sich zu, die ihr ein weiteres Mal sagte, dass sie direkt zum Moderator gehen solle, wenn sie ihren Namen hörte. Auch auf welchem Sessel sie Platz nehmen sollte, hörte sie jetzt zum x-ten Mal.
Toi, toi, toi. Als müsste sie auf eine Theaterbühne. Trotzdem spürte Katrine, dass sie innerlich lächelte.
Harry blieb in der Tür der Jealousy Bar stehen und stellte fest, dass das Geräusch einer lärmenden Menschenmenge ihn getrogen hatte. Wenn nicht noch jemand in den Nischen an der Wand saß, war er der einzige Gast in der Kneipe. Er bemerkte schließlich, dass der Lärm aus dem Fernseher hinter dem Tresen kam, wo ein Fußballspiel lief. Harry setzte sich auf einen Barhocker und sah zu.
»Bes¸iktas¸ gegen Galatasaray«, sagte der Barkeeper lächelnd.
»Türkisch«, erwiderte Harry.
»Ja«, erwiderte der Barkeeper finster. »Interessiert?«
»Eigentlich nicht.«
»Auch okay. Aber das ist der reinste Wahnsinn. Wenn man Fan der Gastmannschaft ist und die mal ein Spiel gewinnt, muss man sehen, dass man nach dem Abpfiff nach Hause kommt, sonst riskiert man, erschossen zu werden.«
»Hm. Geht es dabei um eine andere Religion oder um verschiedene soziale Klassen?«
Der Barkeeper hörte auf, Biergläser zu spülen, und musterte Harry. »Es geht ums Gewinnen.«
Harry zuckte mit den Schultern. »Natürlich. Ich heiße Harry Hole und bin … war Hauptkommissar am Dezernat für Gewaltverbrechen. Sie haben mich für die Ermittlungen wieder ins Boot geholt, es geht um …«
»Elise Hermansen.«
»Genau. Ich habe in dem Protokoll Ihrer Aussage gelesen, dass Sie einen Gast mit Cowboystiefeln hier hatten, als Elise und ihr Date hier waren.«
»Stimmt.«
»Können Sie mir mehr über diesen Mann sagen?«
»Eigentlich nicht. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, kam er direkt nach Elise und setzte sich in die Nische da drüben.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Ja, aber nicht lange oder gründlich genug, um ihn beschreiben zu können. Sie sehen ja, man kann die Nischen von hier aus nicht einsehen. Er hatte nichts bestellt und war dann irgendwann auch wieder weg. Das passiert häufiger, die Leute finden es hier wohl zu leer. Das ist das Problem mit Kneipen, man braucht Leute, um andere Leute anzuziehen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er gegangen war, und mir deshalb auch keine Gedanken darüber gemacht. Außerdem wurde sie ja in ihrer Wohnung ermordet, oder?«
»Ja, stimmt.«
»Sie glauben, dass er ihr nach Hause gefolgt sein kann?«
»Das ist auf jeden Fall eine Möglichkeit.« Harry betrachtete den Barkeeper genauer. »Mehmet, nicht wahr?«
»Stimmt.«
Der Kerl hatte etwas, das Harry instinktiv mochte und das ihn laut aussprechen ließ, was er dachte. »Wenn mir der Stil einer Kneipe nicht gefällt, mache ich an der Tür wieder kehrt. Und wenn ich reingehe, bestelle ich auch was. Dann sitze ich nicht einfach nur rum. Er kann ihr hierher gefolgt sein, und als er die Situation gecheckt und erkannt hat, dass sie bald wieder gehen würde, ohne den Typ mitzunehmen, ist er los, um in ihrer Wohnung auf sie zu warten.«
»Wirklich? Was für ein kranker Arsch. Das arme Mädchen. Apropos arm, da ist der Typ, den sie an dem Abend getroffen hat.« Mehmet nickte in Richtung Tür, und Harry drehte sich um. Die Galatasaray-Fans waren so laut, dass er das Eintreten des kahlen, untersetzten Mannes in Daunenweste und schwarzem Hemd nicht bemerkt hatte. Der Mann setzte sich an die Bar und nickte dem Barkeeper steif zu. »Ein großes Bier.«
»Geir Sølle?«, fragte Harry.
»Lieber nicht«, sagte der Mann und lachte hohl, ohne dass sein Gesichtsausdruck sich dabei veränderte. »Journalist?«
»Polizei. Ich will wissen, ob jemand von Ihnen diesen Mann erkennt.« Harry legte das Phantombild von Valentin Gjertsen auf den Tresen. »Seit dieses Bild erstellt worden ist, hat der Mann vermutlich umfangreiche plastische Operationen machen lassen, bemühen Sie also Ihre Phantasie.«