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Die Stimme. Und dieses abstoßende Stottern. Sie kannte beides. Sie trat wild um sich und versuchte, sich loszureißen, aber sie steckte wie in einem Schraubstock fest. Er zog sie vor den Spiegel. Legte seinen Kopf auf ihre Schulter.

»Es war nicht dein Fehler, dass ich verurteilt wurde, Elise, die Beweise waren überwältigend. Aber deshalb bin ich nicht hier. Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass das alles ein Riesenzufall ist?« Er grinste. Elise starrte in seinen offenen Mund. Sein Gebiss sah aus, als wäre es aus Eisen, schwarz und rostig mit spitzen Zacken in Ober- und Unterkiefer, wie eine Bärenfalle.

Es knirschte leise, als er den Mund aufmachte, es musste da ­irgendwo eine Feder geben.

Sie erinnerte sich an die Details des Falls. An die Fotos vom Tatort. Und wusste, dass sie bald sterben würde.

Dann biss er zu.

Elise Hermansen schrie in seine Hand, als sie das Blut aus ihrem eigenen Hals spritzen sah.

Er hob den Kopf wieder. Sah in den Spiegel. Ihr Blut tropfte ihm von den Augenbrauen, von den Haaren und lief ihm über das Kinn.

»Das nenne ich ein M-Match, Baby«, flüsterte er. Dann biss er noch einmal zu.

Vor ihren Augen begann sich alles zu drehen. Sein Griff lockerte sich, aber er brauchte sie auch nicht mehr festzuhalten. Eine lähmende, finstere Kälte nistete sich in ihr ein. Sie befreite eine Hand und streckte sie in Richtung des Fotos am Spiegel aus. Versuchte, es zu berühren, doch die Fingerspitzen erreichten es nicht ganz.

Kapitel 2

Donnerstagvormittag

Das gleißende Vormittagslicht fiel durch die Fenster ins Wohnzimmer und den Flur.

Die leitende Kriminalkommissarin Katrine Bratt stand schweigend vor dem Spiegel und betrachtete das Foto, das in dem Rahmen klemmte. Es zeigte eine Frau und ein kleines Mädchen. Beide saßen Arm in Arm auf einem glattgespülten Felsen am Meer. Mit nassen Haaren und in Handtücher gewickelt. Als wollten sie sich nach einem etwas zu kalten Bad im norwegischen Meer gegenseitig wärmen. Doch jetzt trennte sie etwas. Blut war über den Spiegel und das Foto gelaufen und wie eine Trennlinie genau zwischen den lächelnden Gesichtern angetrocknet. Katrine Bratt hatte keine Kinder. Möglicherweise hatte sie sich irgendwann einmal welche gewünscht, doch in diesem Moment ganz sicher nicht. Sie war gerade wieder Single geworden und auf gutem Wege, die Karriereleiter noch weiter nach oben zu klettern. Oder etwa nicht?

Sie hörte ein leises Räuspern und hob den Blick. Er begegnete einem vernarbten Gesicht mit vorspringender Stirn und seltsam hohem Haaransatz. Truls Berntsen.

»Was gibt’s, Herr Kommissar?«, fragte sie in gedehntem Ton und sah, wie seine Miene erstarrte. Sie spielte darauf an, dass er trotz fünfzehn Jahren Polizeidienst aus einem oder mehreren Gründen nie Kriminalkommissar im Dezernat für Gewaltverbrechen geworden wäre, hätte ihn sein Jugendfreund und jetziger Polizeipräsident Mikael Bellman dort nicht platziert.

Berntsen zuckte mit den Schultern. »Nichts, Sie leiten ja die Ermittlungen.« Er sah sie mit kaltem, zugleich unterwürfigem und boshaftem Hundeblick an.

»Befragen Sie die Nachbarn«, sagte Bratt. »Fangen Sie mit der Etage drunter an. Uns interessiert besonders, was die Leute gestern und heute Nacht gesehen und gehört haben. Und da Elise Hermansen allein wohnte, ist auch von Interesse, mit welchen Männern sie Umgang hatte.«

»Sie gehen also davon aus, dass das ein Mann war und dass sie sich von früher kannten?« Erst jetzt bemerkte Katrine Bratt den jungen Mann, fast noch ein Junge, der neben Berntsen stand. Offenes Gesicht, blond, hübsch.

»Anders Wyller, hab heute erst angefangen.« Helle Stimme, lächelnde Augen. Katrine dachte, dass er sich seiner Wirkung durchaus bewusst war. Das Zeugnis von seinem Chef in der Polizeistation Tromsø war die reinste Liebeserklärung gewesen. Aber okay, er hatte auch einen Lebenslauf, der zu ihm passte. Bestnoten an der Polizeihochschule, die er vor zwei Jahren abgeschlossen hatte, samt guter Resultate als Kommissaranwärter in Tromsø.

»Gehen Sie schon mal vor, Berntsen«, sagte Katrine.

Seine schlurfenden Schritte waren ein stiller Protest dagegen, von einer jüngeren Frau herumkommandiert zu werden.

»Willkommen«, sagte sie und streckte dem jungen Mann die Hand entgegen. »Tut mir leid, dass wir Sie an Ihrem ersten Tag nicht richtig willkommen heißen können.«

»Die Toten haben Priorität vor den Lebenden«, sagte Wyller, und Katrine erkannte das Harry-Hole-Zitat. Erst als sie sah, wie Wyller ihre Hand betrachtete, wurde ihr bewusst, dass sie noch die Latexhandschuhe trug.

»Die haben nichts Ekliges angefasst«, sagte sie.

Er lächelte. Weiße Zähne. Zehn Pluspunkte.

»Ich hab eine Latexallergie«, sagte er.

Zwanzig Minuspunkte.

»Okay, Wyller«, sagte Katrine Bratt noch immer mit ausgestreckter Hand. »Diese Handschuhe sind puderfrei und haben nur sehr wenig Allergene und Endotoxine, und wenn Sie wirklich im Dezernat für Gewaltverbrechen arbeiten wollen, müssen Sie die ziemlich oft anziehen. Aber wir können Sie natürlich ans Dezernat für Wirtschaftskriminalität abtreten, wenn Sie wollen …«

»Nee, danke«, sagte er lachend und ergriff ihre Hand. Sie spürte die Wärme seiner Haut durch das Latex.

»Ich bin Katrine Bratt, leitende Ermittlerin in diesem Fall. Und du darfst mich gerne duzen.«

»Danke. Du warst doch auch in dieser Harry-Hole-Gruppe, oder?«

»Harry-Hole-Gruppe?«

»Im Heizungsraum.«

Katrine nickte. Sie hatte die kleine, dreiköpfige Ermittlergruppe, die parallel und unabhängig von den offiziellen Er­mittlungen im Einsatz gewesen war, nie Harry-Hole-Gruppe ­genannt … obwohl es das eigentlich ziemlich genau traf.

Inzwischen war Harry an der Polizeihochschule, Bjørn in Bryn bei der Kriminaltechnik, und sie selbst war ins Dezernat gewechselt, wo sie vor kurzer Zeit zur Chefermittlerin aufgestiegen war.

Wyllers Augen glänzten, noch immer lächelnd. »Schade, dass Harry Hole nicht …«

»Schade, dass wir jetzt nicht die Zeit haben, uns zu unterhalten, Wyller, wir müssen einen Mord aufklären. Begleite Berntsen, und halte Augen und Ohren offen.«

Anders Wyller verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Du meinst also, dass ich von Kommissar Berntsen etwas lernen kann?«

Bratt zog die Augenbrauen hoch. Jung, selbstsicher, furchtlos. So weit, so gut, sie hoffte nur inständig, dass er nicht einer dieser Harry-Hole-Wannabes war.

Truls Berntsen drückte mit dem Daumen auf den Klingelknopf, hörte es drinnen läuten und dachte, dass er aufhören sollte, Nägel zu kauen. Er ließ den Knopf los.

Als er Mikael gebeten hatte, ins Dezernat für Gewaltverbrechen versetzt zu werden, hatte dieser ihn nach den Gründen für diese Bitte gefragt. Und Truls hatte freiheraus zugegeben, dass er auf der Karriereleiter gerne ein Stück weiter nach oben wollte, ohne sich dafür den Arsch aufzureißen. Jeder andere Polizei­präsident hätte Truls rausgeworfen, aber dieser konnte das nicht. Dafür hatten die beiden zu viel gegeneinander in der Hand. In jungen Jahren waren sie durch eine Art Freundschaft verbunden gewesen, später handelte es sich um eine Symbiose wie bei Putzerfisch und Hai. Inzwischen verbanden die gemeinsamen Sünden und Schweigegelübde sie untrennbar miteinander. Und bewirkten, dass Truls Berntsen sich nicht einmal verstellen musste, als er seine Bitte formulierte.

Dass diese Aktion wirklich klug gewesen war, bezweifelte Truls mittlerweile. Im Dezernat für Gewaltverbrechen gab es die Ermittler und die Analytiker. Als Dezernatsleiter Gunnar Hagen gesagt hatte, dass Truls selbst wählen könne, was er sein wollte, war Truls bewusst geworden, dass er ihm definitiv keine Ver­antwortung übertragen würde. Was ihm eigentlich nur recht war. Trotzdem hatte es ihm einen schmerzhaften Stich versetzt, als die Chefermittlerin Katrine Bratt ihn im Dezernat herumgeführt, ihn konstant Herr Kommissar genannt und sich dann extraviel Zeit genommen hatte, um ihm die Bedienung der Kaffeemaschine zu erklären.