Smiths Seitenhieb schien den Moderator nicht zu stören. Er zog die Stirn besorgt in Falten und fragte: »Herr Smith, halten Sie es für einen Fehler, dass die Polizei nicht eher damit an die Öffentlichkeit getreten ist, dass ein Vampirist sein Unwesen treibt? Sie haben in der VG darüber geschrieben.«
»Hm.« Smith schnitt eine Grimasse und sah zu einem der Scheinwerfer. »Sie spielen auf die Frage an, was man wissen konnte, nicht wahr? Vampiristen gehören, wie gesagt, zu den äußersten Randphänomenen der Psychologie. Es ist noch nicht viel bekannt, und wir können nicht erwarten, dass die Polizei für alle Absonderlichkeiten Spezialisten hat. Deshalb nein, ich würde sagen, dass es sicher unglücklich war, von einem Fehler würde ich aber nicht sprechen.«
»Aber jetzt weiß die Polizei Bescheid. Was sollte sie jetzt also tun?«
»Auf Fachwissen in diesem Bereich zurückgreifen.«
»Eine letzte Frage: Wie vielen Vampiristen sind Sie schon begegnet?«
Smith blies die Wangen auf und ließ die Luft entweichen. »Echten?«
»Ja.«
»Zwei.«
»Wie reagieren Sie selbst auf Blut?«
»Mir wird schlecht davon.«
»Trotzdem schreiben und forschen Sie darüber?«
Smith verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Vielleicht gerade deshalb. Wir sind doch alle ein bisschen verrückt.«
»Auch Sie, Hauptkommissarin Bratt?«
Katrine zuckte zusammen, sie hatte für einen Moment vergessen, dass sie nicht fernsah, sondern selbst im Fernsehen war. »Was?«
»Ein bisschen verrückt?«
Katrine suchte nach einer Antwort. Nach etwas Witzigem, Genialem, wie Harry es ihr geraten hatte. Sie wusste, dass ihr das aber erst später einfallen würde, wenn sie wieder zu Hause war und ins Bett ging. Was hoffentlich nicht mehr so lange dauerte, denn sie spürte, dass ihr Adrenalinspiegel sank und sie immer müder wurde. »Ich …«, begann sie, gab dann aber auf und sagte nur: »Tja, wer weiß!«
»Verrückt genug, um sich vorstellen zu können, sich einem Vampiristen auszusetzen? Keinem Mörder, wie in diesem schrecklichen Fall, sondern einem Mann, der Sie nur ein bisschen beißen will?«
Katrine war klar, dass das als Spaß gemeint war, vielleicht inspiriert von ihrem SM-Outfit.
»Ein bisschen?«, wiederholte sie und zog die schmalen, schwarz geschminkten Augenbrauen hoch. »Ja, warum nicht.«
Ohne es beabsichtigt zu haben, erntete nun auch sie Lachen.
»Frau Bratt, dann wünsche ich Ihnen viel Glück bei der weiteren Jagd nach dem Täter. Sie haben das letzte Wort, Smith. Die Frage, wie man einen Vampiristen fängt, ist noch unbeantwortet. Können Sie Bratt einen Tip geben?«
»Vampirismus ist in der Tat eine Extremform von Paraphilie. Häufig haben Vampiristen noch andere psychiatrische Diagnosen. Ich möchte deshalb alle Psychologen und Psychiater auffordern, der Polizei zu helfen. Gehen Sie Ihre Patientenlisten durch, und sehen Sie nach, ob es bei Ihnen nicht jemanden gibt, dessen Verhalten mit dem des klinischen Vampirismus übereinstimmt. Ich glaube, wir sind uns einig, dass in solchen Fällen die Schweigepflicht zweitrangig ist.«
»Und damit sage ich im Namen des Sonntagsmagazins …«
Der Fernsehbildschirm hinter dem Tresen wurde schwarz.
»Scheiß Sache«, sagte Mehmet. »Aber Ihre Kollegin sieht echt scharf aus.«
»Hm, ist es hier immer so leer?«
»Nein.« Mehmet ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Räusperte sich. »Oder doch.«
»Mir gefällt’s.«
»Wirklich? Sie haben Ihr Bier ja nicht einmal angerührt. Schauen Sie, das ist ja mausetot.«
»Gut so«, sagte der Polizist.
»Ich kann Ihnen was mit ein bisschen mehr Leben machen.« Mehmet nickte in Richtung des Galatasaray-Wimpels.
Katrine hastete über einen der labyrinthischen, leeren Flure der Fernsehanstalt, als sie hinter sich Keuchen und schwere Schritte hörte. Ohne anzuhalten, drehte sie sich halb um. Es war Hallstein Smith. Katrine bemerkte, dass er sich bewusst oder unbewusst eine Lauftechnik angeeignet hatte, die ebenso unorthodox wie seine Forschung war. Oder er hatte extreme X-Beine.
»Bratt!«, rief Smith.
Katrine blieb stehen und wartete.
»Bevor ich es vergesse, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte Smith, als er schwer atmend vor ihr stand.
»Wofür denn?«
»Dass ich so viel geredet habe. Aufmerksamkeit macht mich richtig high, meine Frau sagt mir das immer wieder. Aber viel wichtiger ist diese Zeichnung …«
»Ja?«
»Ich konnte das nicht live vor der Kamera sagen, aber ich glaube, ich hatte den als Patienten.«
»Valentin Gjertsen?«
Smith nickte. »Ich bin mir, wie gesagt, nicht sicher, das ist bestimmt zwei Jahre her, und es waren auch nur ein paar wenige Therapiesitzungen in der Praxis, die ich damals in der Stadt gemietet hatte. Die Ähnlichkeit ist gar nicht mal so groß, aber ich musste spontan an ihn denken, als Sie das mit den plastischen Operationen gesagt haben. Ich erinnere mich nämlich, dass dieser Patient eine frische Narbe unter dem Kinn hatte.«
»War er Vampirist?«
»Das weiß ich nicht. Er hat nichts davon gesagt, sonst hätte ich seinen Fall natürlich für meine Forschung aufgenommen.«
»Vielleicht ist er aus Neugier zu Ihnen gekommen. Vielleicht wusste er, dass Sie im Bereich der … – wie hieß das noch mal? – forschen?«
»Paraphilie. Durchaus möglich. Ich bin mir, wie gesagt, ziemlich sicher, dass wir es mit einem intelligenten Vampiristen zu tun haben, der sich seines eigenen Leidens durchaus bewusst ist. Aber egal, umso bitterer ist es, dass mein Patientenarchiv gestohlen worden ist.«
»Sie erinnern sich nicht daran, wie dieser Patient sich genannt hat? Oder wo er gewohnt oder gearbeitet hat?«
Smith seufzte schwer. »Ich fürchte, mein Gedächtnis ist nicht mehr so, wie es mal war.«
Katrine nickte. »Dann hoffen wir mal, dass er auch noch bei anderen Psychologen war und dass sich einer von denen an ihn erinnert und nicht zu katholisch ist, was die Schweigepflicht angeht.«
»Ein bisschen Katholizismus ist nicht zu verachten.«
Katrine zog die Augenbrauen hoch. »Wie meinen Sie das denn?«
Smith kniff resigniert die Augen zusammen und schien einen Fluch hinunterzuwürgen. »Ach, nichts.«
»Jetzt kommen Sie schon, Smith!«
Der Psychologe breitete erklärend die Arme aus. »Ich habe bloß zwei und zwei zusammengezählt, Bratt. Ihre Reaktion, als der Moderator gefragt hat, ob Sie auch ein bisschen verrückt sind, kombiniert mit Ihrer Aussage über den Regen in Sandviken. Wir kommunizieren oft unbewusst, und was Sie gesagt haben, hieß doch wohl, dass Sie mal als Patientin in Sandviken waren. Und für Sie als leitende Ermittlerin ist es sicher gut, wenn sich jemand an die Schweigepflicht hält, zum Schutz derjenigen, die Hilfe gesucht haben, um nicht ein Leben lang von Dämonen heimgesucht zu werden.«
Katrine Bratt spürte, dass ihr der Mund offen stand. Vergeblich versuchte sie, ein Wort herauszubringen.
»Sie müssen nicht auf meine idiotischen Schlussfolgerungen reagieren«, sagte Smith. »Ich unterliege, auch was Sie angeht, der Schweigepflicht, nur dass das gesagt ist. Gute Nacht, Bratt.«
Katrine blieb stehen und sah Hallstein Smith hinterher, der x-beinig wie ein Eiffelturm über den Flur stapfte, bis ihr Handy klingelte.
Es war Bellman.
Er war nackt, in ein Badetuch gehüllt, und der undurchdringliche, glühend heiße Nebel brannte überall dort auf seiner Haut, wo sie aufgescheuert war. Blut tropfte auf die Holzbank unter ihm. Er schloss die Augen, spürte die Tränen kommen und stellte sich vor, wie er es machen würde. Diese verfluchten Regeln begrenzten den Genuss, begrenzten den Schmerz und bewirkten, dass er sich nicht so ausdrücken konnte, wie er es wollte. Aber es würden andere Zeiten kommen. Der Polizist hatte seine Nachricht erhalten. Er war jetzt auf der Jagd nach ihm und versuchte, Witterung aufzunehmen, aber ohne Aussicht auf Erfolg, denn er war sauber.