Auf dem Display stand »Unbekannt«. Dann kam der Anruf nicht aus der Redaktion. Sie zögerte, bei solch großen Mordfällen kamen die verrücktesten Leute auf sie zu, schließlich siegte aber doch die Neugier, und sie nahm das Gespräch an.
»Guten Abend, Mona.« Eine Männerstimme. »Ich glaube, wir sind allein.«
Mona sah sich automatisch um. Die junge Frau an der Rezeption konzentrierte sich voll und ganz auf ihr Handy. »Wie meinen Sie das?«
»Du hast das ganze Studio für dich, und ich habe den ganzen Frognerpark. Eigentlich fühlt sich das doch so an, als hätten wir ganz Oslo für uns, nicht wahr? Du mit deinen ungewöhnlich gut informierten Artikeln und ich als Hauptperson deiner Artikel.«
Mona sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Ihr Puls hatte sich beschleunigt, aber nur ein bisschen. All ihre Freunde wussten, dass sie abends hier trainierte und dabei auf den Park blicken konnte. Es war nicht das erste Mal, dass jemand sie zu verarschen versuchte, und es würde sicher auch nicht das letzte Mal sein.
»Ich weiß weder, wer Sie sind, noch, was Sie wollen. Sie haben zehn Sekunden, dann lege ich auf.«
»Ich bin nicht ganz mit der Berichterstattung zufrieden, ein paar Details meiner Werke scheinen euch vollkommen egal zu sein. Ich biete dir ein Treffen an, um dir zu erzählen, was ich euch zeigen will. Und was in nächster Zukunft passieren wird.«
Ihr Puls beschleunigte sich stärker.
»Ich muss sagen, dass das verlockend klingt. Abgesehen davon, dass Sie sicher keine Lust haben, festgenommen zu werden, und ich nicht gebissen werden möchte.«
»Unten im Containerhafen Sjursøya steht ein alter, verlassener Käfig aus dem Zoo in Kristiansand. An der Tür ist kein Schloss, du könntest also ein Vorhängeschloss mitnehmen und dich einschließen, ich rede dann von außen mit dir. So kann ich dich kontrollieren, und du bist in Sicherheit. Du kannst eine Waffe mitbringen, wenn du das willst.«
»Am besten wohl eine Harpune?«
»Harpune?«
»Ja, wenn wir schon Taucher und weißer Hai spielen.«
»Du machst dich über mich lustig.«
»Würden Sie sich an meiner Stelle ernst nehmen?«
»Wenn ich du wäre, würde ich – bevor ich mich endgültig entscheide – um Details zu den Morden bitten, die nur der Täter kennen kann.«
»Dann reden Sie schon.«
»Ich habe den Smoothie-Mixer von Ewa Dolmen genutzt, um mir einen Cocktail zu mischen. Eine Bloody Ewa, wenn du so willst. Überprüf das mit deiner Polizeiquelle, ich habe anschließend nämlich nicht gespült.«
Mona dachte nach. Das Ganze war komplett verrückt. Andererseits konnte das der Coup des Jahrhunderts werden und für alle Zeit ihre journalistische Arbeit prägen.
»Okay, ich kontaktiere meine Quelle, kann ich Sie in fünf Minuten anrufen?«
Leises Lachen. »Mit billigen Tricks baut man kein Vertrauen auf, Mona. Ich rufe dich in fünf Minuten an.«
»In Ordnung.«
Es dauerte, bis Truls Berntsen das Gespräch annahm. Er hörte sich verschlafen an.
»Ich dachte, Sie würden alle arbeiten?«, fragte Mona.
»Irgendwer muss auch freihaben.«
»Ich habe nur eine Frage.«
»Es gibt Mengenrabatt, sollten es doch mehr werden.«
Als Mona auflegte, wusste sie, dass sie eine Goldgrube gefunden hatte. Oder besser, dass die Goldgrube sie gefunden hatte.
Und als der nächste Anruf von der unbekannten Nummer kam, hatte sie zwei Fragen. Wann und wo?
»Havnegata 3. Morgen Abend um acht. Und Mona?«
»Ja?«
»Sag keiner Menschenseele etwas davon, bevor das nicht vorbei ist. Vergiss nicht, dass ich dich die ganze Zeit im Blick habe.«
»Gibt es irgendeinen Grund, warum wir das nicht per Telefon machen können?«
»Ja, ich will dich dabei sehen. Und du willst mich sehen. Schlaf gut. Wenn du mit deinem Laufrad fertig bist.«
Harry lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Er konnte das natürlich auf die beiden Tassen überaus starken Kaffees schieben, die er bei Mehmet bekommen hatte, andererseits wusste er, dass es nicht daran lag. Er war einfach wieder an dem Punkt, an dem es unmöglich war, das Hirn abzuschalten, bis alles vorbei war. Es arbeitete ohne Unterlass, in alle Richtungen, bis der Täter gefasst war, ja manchmal noch darüber hinaus. Drei Jahre. Drei Jahre ohne ein noch so kleines Lebenszeichen. Oder eine Todesnachricht. Und mit einem Mal war Valentin Gjertsen wieder da und hatte sich gezeigt. Nicht nur von ferne mit seinem Teufelsschwanz winkend, nein, er war mit voller Absicht ins Rampenlicht getreten, wie ein von sich selbst begeisterter Schauspieler, Schriftsteller und Regisseur in einem. Hole zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass es eine Regie gab. Das war nicht das Werk eines verwirrten Psychopathen. Sie hatten es nicht mit jemandem zu tun, der ihnen beiläufig, durch einen Zufall ins Netz gehen würde. Sie mussten auf seinen nächsten Zug warten und zu Gott beten, dass er einen Fehler machte. Und währenddessen nach der kleinsten Nachlässigkeit suchen, die ihm vielleicht bereits unterlaufen war. Denn jeder machte Fehler. Fast jeder.
Harry lauschte auf Rakels gleichmäßigen Atem, dann schlüpfte er unter der Decke hervor und schlich sich ins Wohnzimmer.
Es klingelte nur zweimal, dann wurde der Hörer abgenommen.
»Ich dachte, du schläfst«, sagte Harry.
»Und du rufst trotzdem an?«, fragte Ståle Aune mit schlaftrunkener Stimme.
»Du musst mir helfen, Valentin Gjertsen zu finden.«
»Mir helfen? Oder uns helfen?«
»Mir. Uns. Der Stadt. Der Menschheit, scheißegal. Er muss gestoppt werden.«
»Ich habe dir gesagt, dass meine Schicht um ist, Harry.«
»Er ist wach und irgendwo dort draußen, Ståle. Während wir hier liegen und schlafen.«
»Und das mit schlechtem Gewissen. Aber wir schlafen, Harry. Weil wir müde sind. Ich bin müde, Harry. Zu müde.«
»Ich brauche jemanden, der ihn versteht und seinen nächsten Zug vorhersehen kann, Ståle. Der vorausahnt, wo er einen Fehler machen wird. Der seinen schwachen Punkt findet.«
»Ich kann nicht …«
»Hallstein Smith?«, fragte Harry. »Was hältst du von ihm?«
Es entstand eine Pause.
»Du hast gar nicht angerufen, um mich zu überzeugen«, sagte Ståle, und Harry hörte, dass er ein bisschen gekränkt war.
»Das ist mein Plan B«, sagte Harry. »Hallstein Smith war der Erste, der gesagt hat, dass wir es hier mit einem Vampiristen zu tun haben, der wieder zuschlagen wird. Er hat recht behalten. Valentin hat sich an die Methode gehalten, mit der er Erfolg hatte. Tinder-Dates. Und er hat auch vorhergesagt, dass Valentin das Risiko eingehen wird, Spuren zu hinterlassen. Dass es ihm egal ist, ob er entdeckt wird. Außerdem hat er schon früh den Hinweis gegeben, dass die Polizei nach Sexualstraftätern Ausschau halten soll. Smith hat bis jetzt ziemlich oft ins Schwarze getroffen. Dass er gegen den Strom schwimmt, ist gut, damit würde er zu meiner kleinen Guerillatruppe passen. Entscheidend aber wäre, dass du ihn für einen guten Psychologen hältst.«
»Das ist er. Doch, Hallstein Smith kann eine gute Wahl sein.«
»Über eine Sache mache ich mir aber Gedanken. Dieser Spitzname, den man ihm gegeben hat …«
»Affe?«
»Du hast gesagt, dass seine Kollegen ihn nicht wirklich ernst nehmen?«
»Mein Gott, Harry. Das ist mehr als ein halbes Leben her.«
»Erzähl.«
Ståle schien nachzudenken. Dann lachte er leise. »Ich glaube, dass sogar ich an diesem Spitznamen schuld bin. Während des Studiums hier in Oslo haben wir bemerkt, dass in unserem kleinen Safe in der Psychologiebar Geld fehlte. Unser Hauptverdächtiger war Hallstein, weil er es sich plötzlich doch leisten konnte, mit auf die Studienfahrt nach Wien zu kommen, bei der er sich wegen klammer Finanzen bereits abgemeldet hatte. Das Problem war nur, dass wir nicht beweisen konnten, dass Hallstein sich die Zahlenkombination beschafft hatte, denn nur so konnte er an das Geld gekommen sein. Deshalb habe ich eine Affenfalle gebaut.«