»Eine was?«
»Papa!« Harry hörte am anderen Ende der Leitung eine schrille Mädchenstimme. »Ist alles in Ordnung?«
Harry hörte, wie sich Ståles Hand auf das Telefon legte. »Ich wollte dich nicht wecken, Aurora. Ich spreche mit Harry.«
Dann hörte Harry die Stimme von Ståles Frau Ingrid: »Du siehst ja ganz panisch aus, mein Mädchen. Was ist denn los? Hast du einen Alptraum gehabt? Komm, ich bring dich ins Bett und deck dich zu. Oder sollen wir uns einen Tee kochen?« Schließlich waren Schritte zu hören.
»Wo waren wir?«, fragte Ståle Aune.
»Affenfalle«, erwiderte Harry.
»Genau. Hast du mal Robert Pirsigs Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten gelesen?«
»Ich weiß nur, dass es darin ziemlich wenig um Motorräder geht.«
»Stimmt. In erster Linie ist das ein Buch über Philosophie, aber es geht eben auch um Psychologie und den Kampf zwischen Intellekt und Gefühlen. Wie bei einer Affenfalle. Du machst ein Loch in eine Kokosnuss, das gerade groß genug ist, damit der Affe seine Hand hineinstecken kann. Dann füllst du die Kokosnuss mit Essen, bindest sie an einen Pfahl und versteckst dich. Der Affe riecht das Futter, kommt, steckt die Hand in das Loch und kriegt das Futter zu fassen. In diesem Moment kommst du dann aus deinem Versteck raus. Der Affe will schnell weg, bemerkt dann aber, dass er die Hand nicht aus dem Loch ziehen kann, ohne das Futter loszulassen. Das Interessante ist, dass Affen eigentlich klug genug sind, um zu wissen, dass sie das Futter auch nicht kriegen, wenn sie gefangen werden, dass sie es aber trotzdem festhalten. Der Instinkt, der Hunger, die Begierde sind größer als die Vernunft. Und so wird der Affe gefangen, jedes Mal. Gemeinsam mit dem Chef unserer Bar arrangierte ich ein großes Psychologie-Quiz, zu dem wir das ganze Semester einluden. Die Bude war voll, und alle waren hochmotiviert und gespannt. Nachdem ich dann gemeinsam mit dem Barchef die Antworten durchgegangen war, gab ich bekannt, dass es an der Spitze ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Smith und einem Olavsen geben würde und dass wir mittels eines Tests ermitteln wollten, wer der zweitklügste Kopf des Studiums war. Die Idee war, die beiden angehenden Psychologen als lebendige Lügendetektoren zu testen. Ich stellte eine junge Frau als Angestellte der Bar vor und bat sie, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Die Aufgabe der Kandidaten bestand nun darin, möglichst viel über die Zahlenkombination des Safes herauszubekommen. Smith und Olavsen saßen direkt vor ihr, während sie nach der ersten Ziffer des Codes gefragt wurde. Ich nannte willkürlich alle Ziffern, von Null bis Neun. Dann ging es an die zweite Stelle des Codes und so weiter. Die junge Frau hatte die Aufgabe, immer wieder mit ›Nein, das ist nicht die korrekte Ziffer‹ zu antworten, während Smith und Olavsen ihre Körpersprache studierten, die Größe ihrer Pupillen, ihren Puls, die Frequenz ihrer Stimme, Schweißbildung, unfreiwillige Augenbewegungen, ja all das, was ein ambitionierter Psychologe auf jeden Fall richtig deuten will. Der Gewinner sollte derjenige sein, der die meisten Ziffern richtig gedeutet hatte. Beide saßen da und machten sich Notizen, waren hochkonzentriert, während ich die vierzig Fragen stellte. Immerhin ging es ja um den Titel des zweitbesten Psychologen der Universität.«
»Weil alle sich einig waren, dass der beste …«
»… nicht teilnehmen konnte, weil er das Quiz arrangiert hatte, ja. Als ich fertig war, gaben die beiden mir die Zettel mit ihren Vorschlägen. Dabei zeigte es sich, dass Smith alle vier Ziffern richtig hatte. Großer Jubel im Saal! Höchst beeindruckend. Verdächtig beeindruckend, könnte man sagen. Hallstein hat natürlich eine höhere Intelligenz als ein Affe, ja, ich will nicht ausschließen, dass er sogar erkannt hatte, worum es eigentlich ging. Trotzdem konnte er diesen Sieg nicht auslassen. Er schaffte es nicht! Vielleicht weil Hallstein Smith zu diesem Zeitpunkt ein verdammt unauffälliger, abgebrannter, pickeliger junger Mann war, der bei den Damen keinen Schlag hatte – und vermutlich auch sonst nicht. Mit anderen Worten jemand, der einen solchen Sieg verzweifelter brauchte als die meisten anderen. Er war sich mit Sicherheit bewusst, dass er sich verdächtig machte, das Geld aus dem Safe genommen zu haben, andererseits konnte dieser Verdacht aber nicht bewiesen werden, schließlich gab es ja die Möglichkeit, dass er tatsächlich der phantastische Menschenkenner und Analyst der vielfältigen Signale des Körpers war. Nur …«
»Hm.«
»Was?«
»Nichts.«
»Doch, red schon.«
»Das Mädchen auf dem Stuhl. Die kannte die Zahlenkombination doch gar nicht.«
Ståle amüsierte sich. »Sie arbeitete nicht mal in der Bar.«
»Woher wusstest du, dass Smith in diese Affenfalle tappen würde?«
»Weil ich eben dieser phantastische Menschenkenner bin und so weiter. Die Frage ist, was du jetzt denkst, schließlich weißt du jetzt, dass dein Kandidat eine Vergangenheit als Dieb hat.«
»Von wie viel reden wir?«
»Wenn ich das richtig im Kopf habe, waren es zweitausend Kronen.«
»Das ist nicht viel. Außerdem hast du gesagt, dass Geld im Safe fehlte. Er hatte also nicht alles genommen, richtig?«
»Damals dachten wir, er habe das so gemacht, weil er hoffte, dass es dann nicht auffiel.«
»Und später dachtest du dann, dass er genau die Summe genommen hatte, die ihm fehlte, um doch an eurer Studienfahrt teilnehmen zu können.«
»Er wurde freundlich gebeten, seinen Studienplatz freizugeben, im Gegenzug haben wir die Polizei nicht informiert. Er hat dann einen Studienplatz in Litauen bekommen.«
»Er ist also ins Exil gegangen. Nur dass er nach deinem Coup den Spitznamen Affe hatte.«
»Später ist er zurückgekommen. Hat hier in Norwegen noch ein paar Kurse absolviert und bekam sein Diplom als Psychologe anerkannt. Er hat es geschafft.«
»Du weißt, dass du dich so anhörst, als hättest du ein schlechtes Gewissen?«
»Und du hörst dich so an, als wolltest du einen Dieb einstellen.«
»Gegen Diebe mit akzeptablen Motiven habe ich eigentlich noch nie was gehabt.«
»Ha!«, platzte Ståle heraus. »Du magst ihn jetzt noch mehr. Du verstehst das mit der Affenfalle, du kannst selber ja auch nie loslassen, Harry, verlierst das Große, weil du es nicht schaffst, das Kleine aufzugeben. Du musst diesen Valentin Gjertsen einfach fassen, auch wenn du ganz genau weißt, dass dich das alles kosten kann, was dir lieb und teuer ist.«
»Keine schlechte Parallele, aber du irrst dich.«
»Tue ich das?«
»Ja.«
»Sollte das so sein, freut mich das. Aber ich muss jetzt erst mal schauen, wie es meinen beiden Frauen geht.«
»Natürlich. Sollte Smith zu unserem Team stoßen, könntest du ihm dann eine kleine Einführung geben, was von einem Psychologen erwartet wird?«
»Natürlich, das ist ja wohl das Mindeste, was ich tun kann.«
»Für das Dezernat? Oder weil du für den ›Affen‹ verantwortlich bist?«
»Gute Nacht, Harry.«
Harry ging nach oben und legte sich wieder ins Bett. Ohne sie zu berühren, schob er sich so dicht an sie heran, dass er die Wärme ihres schlafenden Körpers spüren konnte. Er schloss die Augen.
Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten.
Nach einer Weile glitt er weg. Aus dem Bett, durch die Fenster, durch die Nacht, hinunter zu der glitzernden Stadt, deren Lichter nie erloschen. Hinein in die Straßen, die verborgenen Winkel, die Ecken mit den Mülltonnen, in die das Licht der Stadt nie vordrang. Und dort stand er. Sein Hemd war offen, und von seiner nackten Brust schrie ihm ein Gesicht entgegen, das die Haut über sich aufzureißen versuchte, um sich endlich zu befreien.
Es war ein Gesicht, das er kannte.
Gejagt und jagend, ängstlich und gierig, gehasst und voller Hass.
Harry riss die Augen auf.
Er hatte sein eigenes Gesicht gesehen.