Kapitel 17
Montagmorgen
Katrine ließ den Blick über die blassen Gesichter der Ermittlergruppe schweifen. Einige ihrer Kollegen hatten die ganze Nacht durchgearbeitet, aber auch die anderen hatten nicht viel geschlafen. Sie waren die Liste von Valentin Gjertsens bekannten Kontaktpersonen durchgegangen. Vorwiegend Kriminelle, von denen einige einsaßen und andere, wie sich herausstellte, tot waren. Anschließend hatte Tord Gren sie über die Telefonlisten der drei Opfer informiert, die darüber Auskunft gaben, mit wem die Betreffenden in den Stunden und Tagen vor der Ermordung telefoniert hatten. Bis jetzt hatten sie keine übereinstimmenden Telefonnummern, verdächtigen Gespräche oder SMS gefunden. Nur bei Ewa Dolmen gab es etwas Auffälliges. Sie war zwei Tage vor ihrem Tod von einer unbekannten Nummer angerufen worden, hatte den Anruf aber nicht angenommen. Der Anruf war von einem Prepaid-Telefon gekommen, das sich nicht mehr orten ließ. Vermutlich ausgeschaltet oder zerstört, oder das Guthaben war komplett aufgebraucht.
Anders Wyller hatte das vorläufige Resultat der 3-D-Drucker-Verkäufe vorgelegt. Das Ergebnis war ernüchternd. Es waren einfach zu viele solcher Drucker verkauft worden. Überdies war der Anteil der nicht registrierten Käufer so hoch, dass es keinen Sinn machte, dieser Spur zu folgen.
Katrine hatte zu Harry geblickt, der über das Ergebnis nur den Kopf schüttelte, ihre Schlussfolgerung aber teilte.
Bjørn Holm hatte erklärt, dass die Kriminaltechnik sich jetzt, da sie durch die physischen Spuren vom Tatort einen konkret Tatverdächtigen hätten, darauf konzentrieren würde, Valentin Gjertsen auch mit den anderen Tatorten und Opfern in Verbindung zu bringen.
Katrine wollte gerade die Aufgaben des Tages verteilen, als Magnus Skarre die Hand hob und zu reden begann, bevor sie ihm das Wort erteilt hatte.
»Warum ist öffentlich gemacht worden, dass Valentin Gjertsen unser Tatverdächtiger ist?«
»Warum?«, wiederholte Katrine. »Natürlich um an Informationen zu seinem Aufenthaltsort zu kommen.«
»Ja, und davon werden wir jetzt Hunderte, wenn nicht Tausende bekommen, alle basierend auf der Bleistiftskizze eines Gesichts, das auch zu zwei Onkeln von mir passen könnte. Und wir müssen jedem dieser Hinweise nachgehen, denn nicht auszudenken, was passieren würde, sollte sich später herausstellen, dass bereits ein Hinweis über seinen Aufenthaltsort vorlag, als er Opfer vier und fünf totgebissen hat. Dann rollen hier ein paar Köpfe.«
Skarre sah sich nach Unterstützung um. Oder hatte er die bereits und sprach auch im Namen einiger anderer, fragte sich Katrine. »Das ist immer ein Dilemma, Skarre. Aber so haben wir uns entschieden.« Skarre nickte einer der Analystinnen zu, die den Staffelstab übernahm.
»Skarre hat recht, Katrine. Wir könnten wirklich mehr Ruhe zum Arbeiten brauchen. Wir haben die Bevölkerung schon früher um Hinweise zu Valentin Gjertsen gebeten, ohne dass uns das irgendwas gebracht hätte. Das hat uns damals nur von anderen Sachen abgelenkt, die möglicherweise zum Ziel hätten führen können.«
»Und noch etwas«, sagte Skarre. »Jetzt weiß er, dass wir Bescheid wissen. Außerdem haben wir ihn so vielleicht vertrieben. Er muss ja auch schon in den letzten drei Jahren ein Schlupfloch gehabt haben, in das er sich jetzt vielleicht wieder verkriecht.« Skarre verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust.
»Wer riskiert hier was?«, fragte jemand und ließ ein schnaubendes Lachen folgen. Die Stimme kam aus dem hinteren Teil des Raumes. »Wenn hier jemand was riskiert, dann doch wohl all die Frauen, die als Lockvögel fungieren, wenn wir nicht mit unserem Wissen an die Öffentlichkeit gehen. Und wenn wir diesen Arsch nicht kriegen, ist es meiner Meinung nach okay, wenn wir ihn wenigstens wieder in sein Loch zurücktreiben.«
Skarre schüttelte lächelnd den Kopf. »Berntsen, wenn Sie ein bisschen länger hier im Dezernat sind, werden Sie schon lernen, dass Leute wie Valentin Gjertsen niemals aufhören. Der schlägt allenfalls an einem anderen Ort zu. Sie haben gehört, was die … Chefin …«, er sprach das Wort übertrieben langsam aus, »gestern im Fernsehen gesagt hat. Vielleicht ist Valentin bereits im Ausland. Sollten Sie wirklich glauben, dass er mit Popcorn und Strickzeug zu Hause sitzt, wird Ihnen ein bisschen mehr Erfahrung sicher helfen, diesen Irrtum zu erkennen.«
Truls Berntsen starrte auf seine Handflächen und murmelte etwas, das nicht bis zu Katrine vordrang.
»Wir hören Sie nicht, Berntsen!«, rief Skarre, ohne sich zu ihm umzudrehen.
»Ich hab gesagt, dass die Bilder, die Sie gestern hier von der Jacobsen unter ihren Surfbrettern gesehen haben, nicht alles gezeigt haben«, sagte Truls Berntsen mit lauter, klarer Stimme. »Sie hat noch gelebt, als ich dort eintraf. Aber sie konnte nicht reden, weil er ihr mit einer Zange die Zunge aus dem Hals gerissen und woanders reingesteckt hat. Wissen Sie, was noch alles mitkommt, wenn Sie jemandem die Zunge ausreißen, statt sie abzuschneiden, Skarre? Wie dem auch sei, wenn ich das damals richtig verstanden habe, hat sie mich angefleht, sie zu erschießen. Und wenn ich meine Waffe dabeigehabt hätte, hätte ich vermutlich ernsthaft darüber nachgedacht. Die Frage hat sich dann aber von allein geklärt, weil sie kurz darauf gestorben ist. Das nur zum Thema Erfahrung.«
In der Stille, die folgte, dachte Katrine, dass sie diesen Berntsen eines Tages vielleicht sogar noch mögen würde. Ein Gedanke, der gleich darauf von Truls Berntsens Finale ad absurdum geführt wurde.
»Und soweit ich weiß, sind wir hier für Norwegen verantwortlich, Skarre. Wenn Valentin irgendwo anders anfängt, Nigger und Asis umzubringen, ist das nicht mehr unser Problem. Auf jeden Fall ist das besser, als wenn er sich hier an norwegischen Mädchen vergreift.«
»Wir machen jetzt Schluss«, sagte Katrine und sah in die Runde. Wenigstens schienen jetzt alle wieder wach zu sein. »Wir treffen uns heute um 16 Uhr hier zur Nachmittagsbesprechung. Die Pressekonferenz ist für 18 Uhr angesetzt. Ich werde in den nächsten Stunden versuchen, für Sie alle erreichbar zu sein, fassen Sie sich also kurz und bleiben Sie sachlich, wenn Sie mir Ihre Berichte durchgeben. Und nur damit das klar ist: Es eilt. Alles. Dass er gestern nicht zugeschlagen hat, bedeutet nicht, dass er nicht heute zuschlägt. Auch Gott hat am Sonntag eine Pause eingelegt.«
Der Besprechungsraum leerte sich schnell. Katrine packte ihre Papiere zusammen, klappte den Laptop zu und wollte gerade gehen.
»Ich will Wyller und Bjørn.« Es war Harry. Er saß noch immer auf seinem Stuhl, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Beine weit ausgestreckt.
»Wyller ist okay, was Bjørn angeht, musst du die Neue von der Kriminaltechnik fragen. Irgendeine Lien.«
»Ich habe mit Bjørn gesprochen, und er hat gesagt, dass er mit ihr redet.«
»Das wird er wohl«, rutschte es Katrine heraus. »Hast du mit Wyller schon gesprochen?«
»Ja, er hat sich richtiggehend gefreut.«
»Und der Letzte?«
»Hallstein Smith.«
»Wirklich?«
»Warum nicht?«
Katrine zuckte mit den Schultern. »Ein exzentrischer Nussallergiker ohne Erfahrung in Polizeiarbeit?«
Harry lehnte sich im Stuhl zurück, fuhr mit der Hand in die Hosentasche und fischte ein zerknülltes Päckchen Camel heraus. »Wenn es da im Dschungel tatsächlich ein neues Tier namens Vampirist gibt, hätte ich halt gerne den an meiner Seite, der am meisten über dieses Tier weiß. Du meinst, das mit der Nussallergie spricht gegen ihn?«
Katrine seufzte. »Ich meine nur, dass ich all diese Allergiker langsam leid bin. Anders Wyller ist allergisch gegen Latex, der kann keine Handschuhe anziehen. Und bestimmt auch keine Kondome. Stell dir das mal vor.«
»Lieber nicht«, sagte Harry, warf einen Blick in das Päckchen und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Die abgebrochene Spitze hing traurig nach unten.
»Warum steckst du deine Zigaretten nicht wie andere Leute in die Jackentasche, Harry?«