Harry zuckte mit den Schultern. »Angebrochene Zigaretten schmecken besser. Gehe ich eigentlich recht in der Annahme, dass der Heizungsraum kein reguläres Büro ist? Dann gilt da auch kein Rauchverbot, oder?«
»Tut mir leid«, sagte Hallstein Smith am Telefon. »Aber danke, dass Sie gefragt haben.«
Er legte auf, steckte sich das Handy in die Tasche und sah zu seiner Frau May hinüber, die auf der anderen Seite des Tisches saß.
»Stimmt was nicht?«, fragte sie besorgt.
»Das war die Polizei. Sie haben gefragt, ob ich bereit wäre, in einer kleinen Gruppe mitzuarbeiten, die diesen Vampiristen finden soll.«
»Und?«
»Ich muss doch bald meine Doktorarbeit abgeben. Ich hab keine Zeit. Und ich interessiere mich auch nicht für diese Art von Menschenjagd. Es reicht mir, hier zu Hause den Habicht zu spielen.«
»Und das hast du ihnen gesagt?«
»Ja, bis auf das mit dem Habicht.«
»Und was haben sie geantwortet?«
»Er. Ein Mann. Harry.« Hallstein Smith lachte. »Er hat gesagt, dass er mich versteht und dass Polizeiarbeit ohnehin eine langweilige, detailverliebte Arbeit sei. Gar nicht so wie im Fernsehen.«
»Na, dann«, sagte May und führte sich die Teetasse an die Lippen.
»Ja«, sagte Hallstein und machte das Gleiche.
Harrys und Anders Wyllers Schritte hallten an den Wänden wider und übertönten das leise Klatschen der Wassertropfen, die von der Tunneldecke fielen.
»Wo sind wir hier?«, fragte Wyller, der den Bildschirm und die Tastatur eines älteren Computers trug.
»Unter dem Park, irgendwo zwischen dem Präsidium und dem Gefängnis«, sagte Harry. »Im Volksmund heißt dieser Tunnel Kulverten.«
»Und hier unten gibt es geheime Büros?«
»Nicht geheim, nur leer.«
»Wer will denn hier unten, unter der Erde, ein Büro haben?«
»Keiner, deshalb ist es ja leer.« Harry blieb vor einer Stahltür stehen, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Dann ruckte er an der Tür.
»Zweimal abgeschlossen?«, fragte Wyller.
»Nee, nur festgerostet«, Harry stemmte einen Fuß gegen die Wand und riss die Tür mit einem Ruck auf.
Der Geruch von feuchter Wärme und klammem Mauerwerk schlug ihnen entgegen. Harry sog ihn gierig ein. Zurück im Heizungsraum.
Er schaltete das Licht ein, und die Leuchtstoffröhren an der Decke begannen nach ein paar Sekunden Bedenkzeit tatsächlich blau zu blinken. Als das Flackern wieder aufhörte, sahen sie sich in dem beinahe quadratischen Raum mit dem graublauen Linoleumboden um. Es gab keine Fenster, nur kahle graue Betonwände.
Harry sah zu Wyller und fragte sich, ob der Anblick des Arbeitsraums die spontane Freude dämpfen würde, die der junge Kommissar gezeigt hatte, als Harry ihn gebeten hatte, in seiner kleinen Guerillagruppe mitzuarbeiten. Es sah nicht so aus.
»Rock ’n’ roll«, sagte Anders Wyller und grinste.
»Wir sind die Ersten, du kannst dir also einen Platz aussuchen.« Harry nickte in Richtung der drei Schreibtische. Auf einem standen eine alte Kaffeemaschine mit schmutziger Glaskanne und vier weiße Becher, auf die Namen geschrieben worden waren.
Wyller hatte den PC gerade angeschlossen und Harry die Kaffeemaschine in Gang gesetzt, als die Tür mit einem Ruck aufging.
»Oh, ist doch wärmer hier, als ich es in Erinnerung hatte«, sagte Bjørn Holm mit einem Lachen. »Das hier ist dieser Hallstein.«
Ein Mann mit großer Brille, wirren Haaren und karierter Anzugjacke kam hinter Bjørn Holm zum Vorschein.
»Smith«, sagte Harry und streckte ihm die Hand entgegen, »Ich freue mich, dass Sie sich doch noch anders entschieden haben.«
Hallstein Smith nahm Harrys Hand. »Ich habe eine Schwäche für umgekehrte Psychologie«, sagte er. »Wenn das denn Ihre Taktik war. Ansonsten sind Sie der schlechteste Telefonverkäufer, der mich jemals angerufen hat. Auf jeden Fall war es das erste Mal, dass ich einen Telefonverkäufer zurückgerufen habe, um sein Angebot doch noch anzunehmen. Und übrigens, du kannst mich duzen.«
»Es macht keinen Sinn, jemanden zu bedrängen«, sagte Harry. »Wir brauchen hier Menschen, die die richtige Motivation für diese Arbeit haben. Magst du deinen Kaffee stark?«
»Nein, eigentlich nicht … ich nehme den so, wie ihr den trinkt.«
»Gut. Sieht aus, als wäre das hier deine Tasse.« Harry reichte Smith einen der weißen Becher.
Smith rückte seine Brille zurecht und las den Namen, der mit Edding darauf geschrieben war. »Lew Wygotski?«
»Und diese hier ist für unseren Kriminaltechniker«, sagte Harry und gab Bjørn Holm einen der anderen Becher.
»Noch immer Hank Williams«, las Bjørn Holm zufrieden. »Soll das heißen, dass die Tasse seit drei Jahren nicht gespült worden ist?«
»Wasserfester Stift«, sagte Harry. »Und das ist deine, Wyller.«
»Popeye Doyle? Wer ist das denn?«
»Der beste Polizist aller Zeiten. Schlag’s nach.«
Bjørn drehte den vierten Becher in den Fingern. »Harry? Warum steht auf deinem Becher nicht Valentin Gjertsen?«
»Vermutlich vergessen«, Harry nahm die Kanne aus der Kaffeemaschine und goss ihnen allen ein.
Bjørn drehte sich zu den beiden fragenden Gesichtern um. »Der Tradition folgend haben wir jeweils unsere Helden auf den Tassen, während auf Harrys der Name des Hauptverdächtigen steht. Yin und Yang.«
»Aber das macht doch nichts«, sagte Hallstein Smith. »Und nur dass das gesagt ist: Lew Wygotski ist nicht mein Lieblingspsychologe. Er war zwar ein Pionier, aber …«
»Du hast die Tasse von Ståle Aune«, sagte Harry und schob den letzten Stuhl in die Mitte zu den drei anderen. Sie bildeten einen Kreis. »Wir haben also freie Hand, wir sind unsere eigenen Chefs und niemandem verpflichtet. Aber wir sorgen dafür, dass Katrine Bratt informiert ist und umgekehrt. Setzt euch. Fangen wir damit an, dass jeder von euch ganz ehrlich sagt, was er von diesem Fall hält. Ihr könnt euch auf Fakten, Erfahrungen oder rein auf euer Bauchgefühl beziehen, auf ein einzelnes idiotisches Detail oder einfach auf gar nichts. Nichts, was ihr hier sagt, wird später gegen euch verwendet, und es ist auch erlaubt, vollkommen danebenzuliegen. Wer macht den Anfang?«
Die vier setzten sich.
»Ich habe hier ja eigentlich gar nichts zu sagen«, begann Hallstein Smith, »aber ich finde, dass … dass du anfangen solltest, Harry.« Smith hatte die Hände um seinen Becher gelegt, als fröre er, obwohl der Raum dicht neben den Heizkesseln lag, die das ganze Gefängnis mit Wärme versorgten. »Vielleicht sagst du uns, warum du nicht glaubst, dass es Valentin Gjertsen ist.«
Harry sah zu Smith. Nippte an seiner Tasse. Schluckte. »Okay, dann fange ich an. Ich glaube nicht, dass es nicht Valentin Gjertsen ist. Obwohl mir dieser Gedanke tatsächlich auch schon gekommen ist. Ein Mörder begeht zwei Morde, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Das erfordert Planung und einen kühlen Kopf. Und dann überfällt er plötzlich jemanden und verteilt wie nichts Spuren und Beweise? Das ist auffällig, als legte der Betreffende es darauf an, seine Identität preiszugeben. Und das weckt dann natürlich den Verdacht, dass uns da jemand manipulieren und auf eine falsche Fährte führen will. In dem Fall wäre Valentin Gjertsen wirklich der perfekte Sündenbock.« Harry sah zu den anderen und registrierte Anders Wyllers konzentrierten Blick und seine weit aufgerissenen Augen, Bjørn Holms fast geschlossene Lider und Hallstein Smiths freundliche Offenheit, als wäre er in Anbetracht der Situation automatisch in die Rolle des Psychologen geschlüpft. »Valentin Gjertsen ist aufgrund seiner Akte ein naheliegender Täter«, fuhr Harry fort. »Außerdem weiß der Mörder, dass wir ihn nicht so leicht finden, da wir schon lange ohne Ergebnis nach ihm fahnden. Vielleicht weiß der Mörder aber auch, dass Valentin Gjertsen tot und beerdigt ist. Weil er ihn selbst ermordet und irgendwo verscharrt hat. Weil ein in aller Stille begrabener Valentin den Verdacht gegen sich nicht mit irgendeinem Alibi oder Ähnlichem entkräften kann. Die Ermittlungen würden sich weiterhin auf ihn konzentrieren, und niemand würde an mögliche andere Täter denken.«