Выбрать главу

»Die Fingerabdrücke?«, warf Bjørn Holm ein. »Das Tattoo des Dämons? Die DNA an den Handschellen?«

»Tja.« Harry trank noch einen Schluck. »Die Fingerabdrücke könnte der Täter platziert haben, indem er einen Finger von Valentins Hand abgetrennt und mit nach Hovseter genommen hat. Das Tattoo kann falsch sein, vielleicht eine abwaschbare Zeichnung. Und die Haare an den Handschellen könnten auch von Valentins Leiche stammen. Vielleicht hat er uns die Handschellen mit voller Absicht dagelassen.«

Die Stille im Heizungsraum wurde nur durch ein letztes Röcheln der Kaffeemaschine unterbrochen.

»Verrückt«, lachte Anders Wyller.

»Das findet glatt einen Platz auf der Top-10-Liste der Verschwörungstheorien meiner paranoiden Patienten«, sagte Hallstein Smith. »Ähm … und das meine ich als Kompliment.«

»Genau deshalb sind wir hier«, sagte Harry und beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Wir sollen über Alternativen nachdenken, Möglichkeiten berücksichtigen, die an Katrines Ermittlergruppe komplett vorbeigegangen sind. Weil die bereits eine klare Vorstellung von dem hat, was passiert ist. Und je größer eine Gruppe ist, desto schwieriger ist es, sich von den gegenwärtigen Ideen und Schlussfolgerungen zu lösen. Das ist wie mit der Religion, man glaubt automatisch, dass sich so viele Menschen nicht irren können. Aber«, Harry hob den namenlosen Becher an, »das können sie. Und das tun sie. Immer wieder.«

»Amen«, sagte Smith. »Ähm, die Doppeldeutigkeit war nicht beabsichtigt.«

»Dann lasst uns zur zweiten falschen Theorie kommen«, sagte Harry. »Wyller?«

Anders Wyller starrte in seinen Becher. Holte tief Luft. »Smith, du hast im Fernsehen beschrieben, wie ein Vampirist sich phasenweise weiterentwickelt. Bei uns in Skandinavien werden junge Menschen kontinuierlich medizinisch untersucht, derart extreme Tendenzen würden da auffallen, bevor sie überhaupt die letzte Phase erreichen könnten. Der Vampirist ist kein Norweger, er stammt aus einem anderen Land. Das ist meine Theorie.« Er hob den Blick.

»Danke«, sagte Harry. »Ich kann ergänzen, dass es in der ak­tuell gültigen Statistik über Serienmörder nicht einen einzigen bluttrinkenden Skandinavier gibt.«

»Der Atlas-Mord in Stockholm 1932«, sagte Smith.

»Hm. Kenne ich nicht.«

»Vermutlich weil man den Vampiristen nie gefunden und auch keinen Zusammenhang mit Serienmorden hat herstellen können.«

»Interessant. Und das Opfer war eine Frau wie hier?«

»Lilly Lindström, zweiunddreißig Jahre alt, Prostituierte. Und ich fresse den Besen, den ich zu Hause stehen habe, wenn sie die Einzige war. Später hat man den Mord auch als Vampirmord bezeichnet.«

»Details?«

Smith blinzelte zweimal, dann kniff er die Augen leicht zusammen und begann zu erzählen, als erinnerte er sich Wort für Wort an den Sachverhalt: »Es war der 30. April, Walpurgisnacht, Sankt Eriksplan 11, eine Einzimmerwohnung. Lilly hatte in ihrer Wohnung einen Mann empfangen. Zuvor war sie bei einer Freundin im Erdgeschoss gewesen und hatte um ein Kondom gebeten. Als die Polizei sich Zutritt zu Lillys Wohnung verschaffte, lag sie tot auf einer Ottomane. Es gab weder Fingerabdrücke noch andere Spuren. Der Mörder hatte aufgeräumt und sogar Lillys Kleidung ordentlich zusammengelegt. Im Waschbecken in der Küche fand die Polizei eine mit Blut verschmierte Schöpfkelle.«

Bjørn wechselte einen Blick mit Harry, dann fuhr Smith fort: »Keiner der Namen in Lillys Notizbuch, das waren alles aber auch nur Vornamen, brachte die Polizei weiter. Sie waren nie auch nur in der Nähe des Vampiristen, der da unterwegs war.«

»Aber wenn das wirklich ein Vampirist gewesen wäre, hätte der doch wohl wieder zugeschlagen?«

»Ja«, sagte Smith. »Und wer sagt, dass er das nicht getan hat? Nur dass er später noch gründlicher hinter sich aufgeräumt hat.«

»Smith hat recht«, sagte Harry. »Die Anzahl der Personen, die jedes Jahr verschwinden, ist größer als die Anzahl der registrierten Morde. Aber Wyller hat sicher auch nicht unrecht, wenn er sagt, dass ein sich entwickelnder Vampirist hier in Skandinavien frühzeitig auffallen würde.«

»Was ich im Fernsehen beschrieben habe, war die typische Entwicklung«, sagte Smith. »Es gibt aber auch Leute, die erst später den Vampirismus in sich entdecken, wie es bei manchen Menschen auch dauert, bis sie ihre wahren sexuellen Neigungen ­erkennen. Einer der bekanntesten Vampiristen der Geschichte, Peter Kürten, der sogenannte Vampir von Düsseldorf, war sechsundvierzig Jahre alt, als er das erste Mal Blut von einem Tier trank, einem Schwan, den er im Dezember 1929 im Hofgarten von Düsseldorf getötet hatte. Im gleichen Jahr hatte er bereits acht Menschen getötet und bis zu seiner Verhaftung im Mai 1930 weitere zwanzig in Mordabsicht attackiert.«

»Hm. Du findest es also nicht merkwürdig, dass Valentin Gjertsens ansonsten bereits beängstigende Akte keine Hinweise auf das Trinken von Blut oder Kannibalismus beinhaltet?«

»Nein.«

»Okay, was denkst du, Bjørn?«

Bjørn Holm richtete sich in seinem Stuhl auf und rieb sich die Augen. »Eigentlich dasselbe wie du, Harry.«

»Als da wäre?«

»Der Mord an Ewa Dolmen könnte eine Kopie des Mordes in Stockholm sein. Das Sofa, das Aufräumen und die Tatsache, dass er das Ding, woraus er das Blut getrunken hat, ins Waschbecken gestellt hat.«

»Hört sich das plausibel an, Smith?«, fragte Harry.

»Kopie? Das wäre dann aber neu. Ähm, sollte das paradox klingen, ist das nicht beabsichtigt. Es gab natürlich immer wieder Vampiristen, die sich als Wiedergeburt von Graf Dracula gesehen haben, aber dass ein Vampirist denkt, der wiedergeborene Atlas-Mörder zu sein, halte ich für unwahrscheinlich. Vermutlich hat es eher mit bestimmten Charaktereigenschaften zu tun, die für alle Vampiristen typisch sind.«

»Harry meint, dass unser Vampirist einen Sauberkeitswahn hat«, sagte Wyller.

»Oh«, sagte Smith. »Der Vampirist John George Haigh war vom Händewaschen besessen und lief sommers wie winters mit Handschuhen herum. Er hasste Schmutz und trank das Blut seiner Opfer nur aus frisch gespülten Gläsern.«

»Und du, Smith? Was glaubst du, wer unser Vampirist ist?«

Smith legte Mittel- und Zeigefinger auf die Lippen und bewegte sie auf und ab, so dass ein schmatzendes Geräusch entstand. Er atmete tief aus und ein.

»Ich glaube, dass es sich bei unserem Täter in Übereinstimmung mit anderen Vampiristen um einen intelligenten Mann handelt, der seit seiner Kindheit oder Jugend Tiere und vielleicht sogar Menschen gequält hat. Dass er aus einer bürgerlichen, angepassten Familie kommt, in der nur er unangepasst war. Er wird sehr bald wieder Blut brauchen, und ich glaube, dass es ihn sexuell befriedigt, Blut zu sehen und zu trinken. Er ist auf der Suche nach dem perfekten Orgasmus, den er irgendwo zwischen Vergewaltigung und Blut vermutet. Peter Kürten … also unser Schwanmörder aus Düsseldorf, erklärte, dass die Anzahl Stiche, die er seinen Opfern jeweils versetzt hat, abhängig davon war, wie stark sie bluteten, entsprechend schnell bekam er seinen Orgasmus.«

Beklommenes Schweigen legte sich über die kleine Gruppe.

»Und wo und wie finden wir eine solche Person?«, fragte Harry.

»Vielleicht hatte Katrine gestern im Fernsehen recht«, sagte Bjørn. »Vielleicht hat Valentin sich ins Ausland abgesetzt. Vielleicht macht er ja gerade einen Ausflug zum Roten Platz.«

»Moskau?«, fragte Smith überrascht.

»Kopenhagen«, sagte Harry. »Das Multikulti-Nørrebro. Es gibt dort einen Park, den Menschenhändler regelrecht in ihrer Hand haben. Allerdings vorwiegend Import. Man setzt sich auf eine Bank oder Schaukel und hält irgendein Ticket hoch, egal ob für Flug oder Bus oder was weiß ich. Irgendwann kommt dann ein Typ und fragt dich, wohin du willst. Er fragt auch noch anderes Zeug, natürlich nichts, was ihn auffliegen lassen würde, während ein Kollege von ihm, der irgendwo anders im Park sitzt, ­Fotos von dir gemacht hat, ohne dass du das bemerkt hast. Die Fotos überprüft er im Internet, um sicherzugehen, dass du kein Spitzel bist. Ein wirklich diskretes, teures Reisebüro, bei dem trotzdem niemand business fliegt. Die billigsten Plätze sind in ­einem Container.«