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Smith schüttelte den Kopf. »Ein Vampirist hat kein wirkliches Gefühl für das Risiko. Er denkt nicht so objektiv wie wir, ich glaube nicht, dass er sich abgesetzt hat.«

»Ich auch nicht«, sagte Harry. »Also, wo ist er? Wohnt er allein? Umgibt er sich mit anderen Menschen? Versteckt er sich in der Menge, oder lebt er an einem einsamen Ort? Hat er Freunde? Ist es möglich, dass er eine Lebensgefährtin hat?«

»Ich weiß es nicht.«

»Jeder hier versteht, dass das niemand wissen kann, Smith, Psychologe hin oder her. Ich will ja nur hören, was dir als Erstes in den Sinn kommt. Dein erster Eindruck.«

»Wir Forscher haben häufig so unsere Schwierigkeiten mit ­ersten Eindrücken. Aber er ist einsam. Da bin ich mir ziemlich sicher. Sehr einsam sogar. Ein Eigenbrötler.«

Es klopfte.

»Zieh fest an der Tür und komm rein!«, rief Harry.

Die Tür ging auf. »Guten Tag, verehrte Vampirjäger«, sagte Ståle Aune und schob sich, den Bauch voran, in den Raum. An der Hand ein junges Mädchen mit hochgezogenen Schultern, dem die schwarzen Haare derart ins Gesicht hingen, dass Harry sie nicht erkannte. »Ich habe zugesagt, dir einen Crashkurs in psychologischer Polizeiarbeit zu geben, Smith.«

Smiths Gesicht hellte sich auf. »Das weiß ich wirklich zu schätzen, verehrter Kollege.«

Ståle Aune wippte auf den Füßen. »Das solltest du auch. Aber ich habe nicht vor, auch nur noch ein einziges Mal in dieser Katakombe hier zu arbeiten, wir dürfen Katrines Büro nutzen.« Er legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens. »Aurora ist mitgekommen, weil sie einen neuen Pass braucht. Könntest du das auf dem kleinen Dienstweg regeln, während Smith und ich ein wenig fachsimpeln, Harry?«

Das Mädchen strich sich die Haare zur Seite. Harry konnte erst kaum glauben, dass die blasse junge Frau mit der fettigen Haut und den roten Pickeln das kleine, süße Mädchen war, das er zuletzt vor ein paar Jahren gesehen hatte. Den Klamotten und der dicken Schminke nach zu urteilen, war sie zurzeit auf dem Gothic-Trip. Oleg würde sie vermutlich als Emo bezeichnen. In ihrem Blick lagen aber weder Trotz noch Aufruhr. Auch keine jugendliche Langeweile oder Zeichen der Freude, dass sie Harry – ihren Lieblings-Nicht-Onkel, wie sie ihn genannt hatte – endlich einmal wiedersah. Ihr Blick war leer. Oder nein, nicht leer. Da war noch etwas, das er nicht in Worte fassen konnte.

»Kurzer Dienstweg, wird gemacht! So korrupt sind wir«, sagte Harry und erntete so etwas wie ein Lächeln von Aurora. »Dann gehen wir mal nach oben zum Meldeamt.«

Die vier verließen den Heizungsraum. Harry und Aurora gingen schweigend durch den Kulverten, während Ståle Aune und Hallstein Smith, die dicht hinter ihnen waren, wild durcheinanderredeten.

»Ich hatte da mal einen Patienten – einen gewissen Paul Stavnes, der so indirekt über seine wirklichen Probleme gesprochen hat, dass ich wirklich nichts verstanden habe«, sagte Aune. »Als ich ihn durch Zufall als den gesuchten Valentin Gjertsen entlarvt habe, ist er auf mich losgegangen. Wäre Harry mir nicht zu Hilfe gekommen, hätte er mich umgebracht.«

Harry hörte Aurora tief seufzen.

»Er konnte abhauen, aber während er mich angegriffen hat, konnte ich mir ein klareres Bild von ihm machen. Er hat mir ein Messer an die Kehle gehalten und versucht, mir eine Diagnose zu entlocken. Er hat sich selbst als ›fehlerhafte Ware‹ bezeichnet. Sollte ich nicht antworten, wollte er mich ausbluten lassen. Dabei pumpte sich sein Schwanz auf.«

»Interessant. Konntest du sehen, ob er wirklich eine Erektion hatte?«

»Nein, aber spüren. So wie ich die Zacken dieses Jagdmessers gespürt habe. Ich weiß noch, dass ich damals gehofft habe, mein Doppelkinn würde mich retten.« Ståle amüsierte sich.

Harry spürte das Zittern, das durch Aurora ging, drehte sich um und sah Ståle vielsagend an.

»Oh, entschuldige, mein Mädchen«, rief Ståle aus.

»Über was habt ihr geredet?«, fragte Smith.

»Über viel«, sagte Ståle und senkte die Stimme. »Er war besessen von den Stimmen im Hintergrund von Pink Floyds Dark Side of the Moon

»Das sagt mir was! Aber … bei mir nannte er sich nicht Paul, glaube ich. Außerdem wurden meine Patientenlisten gestohlen.«

»Harry, Smith sagt …«

»Habe ich gehört.«

Sie gingen nach oben ins Erdgeschoss, wo Aune und Smith vor dem Fahrstuhl stehen blieben. Harry und Aurora gingen weiter in die Eingangshalle. Ein Zettel am Übergang zum Meldeamt informierte darüber, dass die Kamera für die Passbilder defekt sei und die Fotos im Automaten auf der Rückseite des Gebäudes gemacht werden müssten.

Harry führte Aurora zu dem einem Klohäuschen ähnlichen Kasten, zog den Vorhang zur Seite und gab ihr ein paar Münzen. Dann setzte sie sich auf die Bank.

»Ach ja«, sagte er. »Du darfst die Zähne nicht zeigen.« Dann zog er den Vorhang zu.

Aurora starrte auf ihr Spiegelbild in dem dunklen Glas vor der Kamera.

Spürte die Tränen kommen.

Am Morgen hatte sie es noch für eine gute Idee gehalten, Papa zu sagen, dass sie mit ins Präsidium wolle, um Harry zu treffen. Dass sie einen neuen Pass bräuchte, um mit der Klasse nach London fahren zu können. Von diesen Dingen hatte er nie Ahnung, darum kümmerte sich immer Mama. Sie hatte gehofft, ein paar Minuten lang mit Harry allein sein und ihm alles erzählen zu können. Aber jetzt, da sie allein waren, konnte sie es trotzdem nicht. Die Angst war wieder aufgelodert, als Papa im Tunnel über das Messer gesprochen hatte, sie hatte erneut zu zittern begonnen, und ihr waren die Knie weich geworden. Denn das Messer mit den Zacken kannte auch sie, der Mann hatte es auch an ihren Hals gehalten. Und jetzt war er zurück. Aurora schloss die Augen, um ihren eigenen verängstigten Gesichtsausdruck nicht sehen zu müssen. Er war zurück, und er würde sie alle töten, wenn sie redete. Außerdem, was sollte Reden schon nützen? Sie hatte ja keine Ahnung, wie sie ihn finden konnten. Das würde also weder Papa noch sonst jemanden retten. Aurora öffnete die Augen und sah sich in dem winzigen Raum um. Er war genau wie damals die Toilette in der Sporthalle. Ihr Blick ging automatisch nach unten und wurde am Ende des Vorhangs fündig. Stiefelspitzen. Sie warteten auf sie, wollten rein, rein …

Aurora riss den Vorhang zur Seite und stürzte an Harry vorbei. Sie hörte ihn hinter sich ihren Namen rufen, war aber gleich dar­auf draußen im Tageslicht, in offenem Gelände. Sie rannte über das Gras durch den Park in Richtung Grønlandsleiret. Hörte, wie sich ihr Schluchzen mit dem Keuchen ihres Atems mischte, als bekäme sie selbst hier draußen nicht genug Luft. Aber sie hielt nicht an. Sie rannte. Wusste, dass sie rennen würde, bis sie stürzte.

»Paul, oder Valentin, hat mir damals nicht erzählt, dass er sich von Blut als solchem irgendwie angezogen fühlt«, sagte Aune, der hinter Katrines Schreibtisch Platz genommen hatte. »Und mit Blick auf seine Akte können wir wohl sagen, dass er bislang keine Hemmungen hatte, seine sexuellen Neigungen auch auszuleben. So ein Mensch entdeckt nur selten im Erwachsenen­alter ganz neue sexuelle Seiten.«

»Vielleicht war die Neigung schon immer da«, sagte Smith. »Nur dass er keinen Weg gefunden hat, seine Phantasien auszuleben. Wenn es sein eigentlicher Wunsch war, Menschen bis aufs Blut zu beißen und direkt aus der Quelle zu trinken, musste er vielleicht erst diese Eisenzähne entdecken, um wirklich loszu­legen.«

»Das Blut anderer Menschen, meistens seiner Gegner, zu trinken ist ein uraltes Ritual. Es geht dabei darum, ihre Kräfte und Fähigkeiten zu übernehmen, nicht wahr?«

»Richtig.«

»Wenn du ein Profil von diesem Serienmörder erstellst, Smith, rate ich dir, von einer Person auszugehen, die unbedingt die Kontrolle haben will, wie wir es von konventionelleren Triebtätern und Lustmördern kennen. Oder noch besser von einer Person, die die Kontrolle zurückerlangen will, eine Macht, die ihr irgendwann genommen wurde. Sozusagen als Wiederherstellung.«