»Danke«, sagte Smith. »Wiederherstellung. Ich bin ganz deiner Meinung. Ich werde diesen Aspekt definitiv berücksichtigen.«
»Was meint ihr mit Wiederherstellung?«, fragte Katrine, die auf dem Fensterbrett Platz genommen hatte, nachdem die beiden Psychologen ihr eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hatten.
»Wir streben doch alle danach, die Schäden, die man uns zufügt, zu reparieren«, sagte Aune. »Oder zu rächen, was aufs Gleiche hinausläuft. Ich habe mich zum Beispiel entschlossen, der geniale Psychologe zu werden, weil ich dermaßen schlecht Fußball gespielt habe, dass niemand mich in seinem Team haben wollte. Harry war noch ein kleiner Junge, als seine Mutter starb, er hat sich entschlossen, Kommissar zu werden und im Morddezernat zu arbeiten, um diejenigen zu bestrafen, die Leben nehmen.«
Der Türrahmen knackte.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Aune.
»Tut mir leid, dass ich euch stören muss«, sagte Harry. »Aber Aurora ist plötzlich abgehauen. Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist, aber irgendetwas muss passiert sein.«
Es sah aus, als zöge ein Tiefdruckgebiet über Ståle Aunes Gesicht. Stöhnend erhob er sich. »Ja, bei diesen Teenagern wissen wirklich nur die Götter Bescheid. Ich werde sie finden. Das war jetzt nur kurz, Smith, ruf mich an, dann nehmen wir den Faden wieder auf.«
»Was Neues?«, fragte Harry, als Aune den Raum verlassen hatte.
»Ja und nein«, sagte Katrine. »Die Rechtsmedizin hat mit hundertprozentiger Sicherheit bestätigt, dass die DNA an den Handschellen von Valentin Gjertsen stammt. Nur ein Psychologe und zwei Sexologen haben Kontakt mit uns aufgenommen und auf Smiths Aufforderung reagiert, ihre Patientenlisten durchzugehen. Die Namen, die sie nannten, konnten wir aber bereits ausschließen. Und wir haben, wie erwartet, mehrere Hundert Tips bekommen: seltsame Nachbarn, Hunde mit Bissspuren von Vampiren, Werwölfe, Kobolde und Trolle. Aber auch ein paar, die es wert sind, genauer unter die Lupe genommen zu werden. Übrigens, Rakel hat angerufen und nach dir gefragt.«
»Ja, ich habe schon gesehen, dass sie es versucht hat. Unten in unserem Bunker ist schlechter Empfang. Meinst du, man kann da was machen?«
»Ich frage Tord, ob es da irgendeine Möglichkeit gibt. Gehört das Büro dann wieder mir?«
Harry und Smith waren allein im Fahrstuhl.
»Du vermeidest Blickkontakt«, sagte Smith.
»Macht man das in Fahrstühlen nicht so?«, fragte Harry.
»Ich meinte generell.«
»Wenn es dasselbe ist, keinen Blickkontakt zu suchen oder ihn zu vermeiden, hast du vermutlich recht.«
»Und du fährst nicht gerne Aufzug.«
»Hm. Ist das so deutlich?«
»Die Körpersprache lügt nicht. Und du findest, dass ich zu viel rede.«
»Es ist dein erster Tag, vielleicht bist du noch ein bisschen nervös.«
»Nein, ich bin immer so.«
»Okay. Ich habe mich übrigens noch gar nicht dafür bedankt, dass du dich doch für uns entschieden hast.«
»Keine Ursache, es tut mir leid, dass ich anfangs so egoistisch war. Immerhin stehen Menschenleben auf dem Spiel.«
»Ich verstehe gut, dass die Doktorarbeit wichtig für dich ist.«
Smith lächelte. »Ja, du verstehst das, du bist ja auch einer von uns.«
»Einer von wem?«
»Von der sonderlichen Elite. Kennst du das Goldman-Dilemma aus den Achtzigern? Damals haben sie Hochleistungssportler gefragt, ob sie dopen würden, wenn ihnen das die Goldmedaille garantierte, auch wenn sie dafür fünf Jahre früher sterben würden. Mehr als die Hälfte hat mit Ja geantwortet. Von der übrigen Bevölkerung haben nur zwei von 250 mit Ja geantwortet. Ich weiß, dass sich das für die meisten Menschen komplett verrückt anhört, nicht aber für Leute wie dich und mich, Harry. Du würdest dein Leben opfern, um diesen Mörder zu kriegen, nicht wahr?«
Harry sah den Psychologen lange an. Hörte das Echo von Ståles Worten. Du verstehst das mit der Affenfalle, du kannst selber ja auch nie loslassen, Harry.
»Noch irgendwas anderes, was du wissen willst, Smith?«
»Ja, hat sie zugenommen?«
»Wer?«
»Ståles Tochter?«
»Aurora?« Harry zog die Augenbrauen hoch. »Tja. Früher war sie dünner.«
Smith nickte. »Ich fürchte, dass du mir die nächste Frage übelnehmen wirst, Harry.«
»Warten wir’s ab.«
»Ist es möglich, dass Ståle Aune eine inzestuöse Beziehung zu seiner Tochter hat?«
Harry starrte Smith an. Er hatte sich für diesen Mann entschieden, weil er Leute wollte, die originell dachten, und solange Smith lieferte, war Harry bereit, das meiste zu schlucken. Das meiste.
Smith hob die Hände. »Ich sehe, dass ich dich wütend gemacht habe, Harry. Ich frage nur, weil sie all die klassischen Symptome zeigt.«
»Okay«, sagte Harry leise. »Du hast zwanzig Sekunden, um ganz schnell zurückzurudern. Nutze sie.«
»Ich will damit nur sagen, dass …«
»Noch achtzehn.«
»Okay, okay. Die Selbstverletzung. Sie trug ein langärmeliges T-Shirt, das die Narben an ihren Unterarmen verdeckte, an denen sie sich die ganze Zeit gekratzt hat. Hygiene. Wenn man nah an ihr dran war, konnte man riechen, dass sie es mit der Hygiene nicht so genau nimmt. Essen. Übertriebenes Fressen oder zu starkes Abnehmen sind typisch für Opfer von Übergriffen. Mentaler Stillstand. Sie wirkte generell deprimiert, vielleicht verängstigt. Mir ist bewusst, dass Kleider und Schminke das Bild beeinflussen können, aber Körpersprache und Gesichtsausdruck lügen nicht. Intimität. Ich habe dir angesehen, dass du sie unten im Heizungsraum eigentlich in die Arme nehmen wolltest. Sie hat so getan, als hätte sie das nicht bemerkt, und hatte extra die Haare im Gesicht, als sie reingekommen ist. Ihr kennt einander gut, habt euch früher in die Arme genommen, weshalb sie das vorhergesehen hat. Opfer von Übergriffen vermeiden Intimität und Körperkontakt. Ist meine Zeit rum?«
Der Fahrstuhl blieb mit einem Ruck stehen.
Harry trat einen Schritt vor, so dass er direkt vor Smith stand und ihn deutlich überragte. Sein Finger drückte den Türknopf, damit die Türen geschlossen blieben. »Nehmen wir für einen Moment an, dass du recht hast, Smith.« Harry senkte die Stimme, bis nur noch ein Flüstern zu hören war. »Warum Ståle, es kämen doch auch andere in Frage? Sieht man mal davon ab, dass du ihm deinen Spitznamen und den Rausschmiss aus der Osloer Uni zu verdanken hast.«
Harry sah den Schmerz in Smiths Augen, als wäre er geohrfeigt worden. Smith blinzelte und schluckte. »Verdammt. Du hast wahrscheinlich recht, vielleicht bilde ich mir das alles nur ein, weil ich tief in meinem Inneren noch immer wütend bin. Das war nur so eine Ahnung, und ich habe dir ja gesagt, dass ich darin nicht gut bin.«
Harry nickte langsam. »Erfahrung hast du aber trotzdem damit, oder? Also, was hast du gesehen?«
Hallstein Smith richtete sich auf. »Ich habe einen Vater gesehen, der seine jugendliche Tochter an der Hand gehalten hat. Mein erster Gedanke war: wie süß, dass die das noch machen. Ich habe mir spontan gewünscht, dass meine Töchter das auch noch akzeptieren, wenn sie Teenager sind.«
»Aber?«
»Man kann das auch anders sehen, es könnte auch vom Vater ausgehen, der Macht und Kontrolle über sie ausübt, indem er sie festhält.«
»Und was hat dich das denken lassen?«
»Dass sie von ihm wegrennt, sobald sie die Gelegenheit dazu bekommt. Ich habe mit Verdachtsfällen für Inzest gearbeitet, Harry, und das Weglaufen von zu Hause ist einer der Punkte, auf den wir besonders achten. Die Symptome, die ich erwähnt habe, können auch tausend andere Ursachen haben, aber wenn es nur die Spur eines Risikos gibt, dass sie zu Hause bedrängt wird, wäre es professionell nicht zu verantworten, das nicht zu erwähnen, oder? Ich weiß, dass du mit Ståles Familie befreundet bist, und genau deshalb sage ich das. Du kannst mit ihr reden.«