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»Es ist möglich«, sagte er schließlich. »Wir sterben alle irgendwann, das Herz kann jederzeit stehenbleiben, das ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit.«

Harry wusste, dass die Wut, die in ihm hochkochte, im Grunde nichts mit dem Arzt oder den Selbstverständlichkeiten zu tun hatte, die dieser von sich gab. Er hatte bei diversen Mordfällen mit Angehörigen zu tun gehabt und wusste, dass die Frustration sich ein Ziel suchte und dass die Tatsache, dass es ein solches Ziel nicht gab, die Wut nur noch größer machte. Er atmete tief ein. »Und von welcher Wahrscheinlichkeit sprechen wir hier?«

Steffens breitete die Arme aus. »Wie gesagt, wissen wir nicht, was das Nierenversagen verursacht hat.«

»Weil Sie das nicht wissen, reden wir ja über Wahrscheinlichkeiten«, sagte Harry und hielt inne. Schluckte. Dämpfte seine Stimme. »Also sagen Sie mir, wie das höchstwahrscheinlich ausgeht – basierend auf dem wenigen, das Sie wissen.«

»Das Nierenversagen ist nicht der eigentliche Fehler, sondern nur ein Symptom. Es kann eine Blutkrankheit oder eine Vergiftung sein. Im Moment ist ja Pilzsaison, aber Ihre Frau hat gesagt, dass Sie in der letzten Zeit keine Pilze gegessen haben. Und dass Sie dasselbe gegessen haben. Fühlen Sie sich irgendwie schlecht, Herr Hole?«

»Ja.«

»Sie … okay, verstehe. Womit wir es hier vermutlich zu tun haben, diese Symptome … das ist ernst.«

»Über oder unter fünfzig Prozent, Steffens?«

»Ich kann nicht …«

»Steffens«, fiel Harry ihm ins Wort. »Ich weiß, dass das bloße Raterei ist, aber bitte sagen Sie mir irgendwas.«

Der Arzt musterte Harry lange, bis er einen Entschluss zu fassen schien.

»So, wie es jetzt aussieht, also basierend auf den Ergebnissen der Proben, glaube ich, dass die Chancen, sie zu verlieren, bei etwas über fünfzig Prozent liegen. Nicht deutlich über fünfzig, aber etwas. Ich konfrontiere Angehörige nicht gern mit diesen Wahrscheinlichkeiten, weil die meisten ihnen zu viel Gewicht beimessen. Stirbt ein Patient bei einer Operation, bei der wir das Risiko mit nur fünfundzwanzig Prozent angegeben haben, werden wir von den Hinterbliebenen oft beschuldigt, sie hinters Licht geführt zu haben.«

»Fünfundvierzig Prozent? Fünfundvierzig Prozent, dass sie überlebt?«

»Im Augenblick. Ihr Zustand verschlechtert sich, die Prognosen werden schlechter werden, wenn wir die Ursache nicht in ­einem oder zwei Tagen finden.«

»Danke.« Harry stand auf. Ihm wurde schwarz vor Augen. Und automatisch kam der Gedanke, die Hoffnung, dass es für immer schwarz blieb. Ein schneller, schmerzfreier Abgang, idio­tisch und banal und trotzdem auch nicht sinnloser als all das andere.

»Es wäre gut zu wissen, wie und ob wir Sie erreichen können, sollte …«

»Ich werde dafür sorgen, rund um die Uhr erreichbar zu sein«, sagte Harry. »Ich gehe dann zurück zu ihr, oder gibt es noch etwas, das ich wissen muss?«

»Ich werde Sie begleiten, Hole.«

Sie gingen zu Zimmer 301. Der lange Gang vor ihnen verschwand irgendwo im gleißenden Licht. Die Strahlen der niedrigstehenden Herbstsonne schienen direkt durch das Flurfenster zu fallen. Krankenschwestern in gespenstisch weißen Kitteln kamen ihnen entgegen, und die wenigen Patienten, die auf dem Flur waren, trugen Morgenmäntel und schlurften wie lebende Tote langsam ins Licht. Gestern hatten Rakel und er sich noch in dem großen Bett mit der etwas zu weichen Matratze in den Armen gelegen, und jetzt war sie hier, im Lande Koma, zwischen Gespenstern und Geistern. Er musste Oleg anrufen. Aber wie sollte er ihm das sagen? Er brauchte einen Drink. Harry wusste nicht, woher dieser Gedanke kam, aber er war so klar und deutlich, als hätte ihn jemand laut gerufen oder ihm direkt ins Ohr geflüstert. Was er wusste, war, dass er diesen Gedanken niederzwingen musste, ersticken, schnell.

»Warum haben Sie auch Penelope Rasch behandelt?«, fragte er laut. »Sie liegt doch gar nicht auf dieser Station?«

»Weil sie eine Bluttransfusion brauchte«, sagte Steffens. »Ich bin Hämatologe und Bankchef und manchmal übernehme ich auch Dienste in der Notaufnahme.«

»Bankchef?«

Steffens blickte Harry an und verstand vielleicht, dass dessen Hirn Abwechslung brauchte, eine Pause von all dem, worin er so plötzlich gelandet war.

»Die hiesige Filiale der Blutbank. Das heißt, eigentlich bin ich Bademeister, wir haben uns nämlich im alten Rheumatikerbad im Keller dieses Gebäudes eingerichtet. Unter uns nennen wir das deshalb nur Blutbad. Sagen Sie nicht, Hämatologen hätten keinen Sinn für Humor.«

»Hm. Das meinten Sie also, als Sie gesagt haben, Sie seien An- und Verkäufer von Blut.«

»Entschuldigung?«

»Sie haben das gesagt, als Sie mir erklärt haben, warum Sie aus den Tatortfotos entnehmen konnten, wie viel Blut Penelope Rasch im Treppenhaus verloren hat. Augenmaß.«

»Ihre Erinnerung ist gut.«

»Wie geht es ihr?«

»Ach, rein physisch entwickelt sie sich gut. Aber sie wird die Hilfe eines Psychologen brauchen. Einem Vampir zu begegnen …«

»Vampirist.«

»… das ist bestimmt eine Warnung.«

»Warnung?«

»Ja. Im Alten Testament wird das Auftauchen vorhergesagt und der Vampir beschrieben.«

»Das Auftauchen eines Vampiristen?«

Steffens lächelte dünn. »In den Sprüchen 30,14. ›Eine Art, die Schwerter für Zähne hat und Messer für Backenzähne und verzehrt die Elenden im Lande und die Armen unter den Leuten‹. Da wären wir.«

Steffens hielt ihm die Tür auf, und Harry ging hinein. In die Nacht. Auf der anderen Seite der geschlossenen Gardine schien die Sonne, aber drinnen kam das einzige Licht von einer grün schimmernden Linie, die in Ausschlägen über einen schwarzen Bildschirm lief. Harry senkte den Blick und musterte ihr Gesicht. Sie sah so friedlich aus. Aber auch weit entfernt, schwebend in einem dunklen Universum, in dem er sie nicht erreichen konnte. Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und wartete, bis er die Tür hinter Steffens ins Schloss fallen hörte. Dann nahm er ihre Hand und drückte sein Gesicht in die Decke.

»Geh nicht noch weiter weg, Liebes«, flüsterte er. »Nicht noch weiter weg!«

Truls Berntsen hatte die Stellwände im Großraumbüro des Präsidiums so verschoben, dass die Box, die er sich mit Anders Wyller teilte, von niemandem eingesehen werden konnte. Deshalb ärgerte es ihn, dass der Einzige, der Einblick hatte, nämlich Wyller, so verdammt neugierig war. Besonders darauf, mit wem Truls telefonierte. Im Augenblick war der Schnüffler aber in ­einem Tattoo- und Piercingladen. Sie hatten einen Tip bekommen, dass dort Vampirartikel importiert würden, unter anderem gebissähnliche Preziosen mit Reißzähnen aus Metall. Truls hatte sich vorgenommen, die willkommene Pause in vollen Zügen auszunutzen. Er hatte die letzte Folge der zweiten Staffel von The Shield heruntergeladen und die Lautstärke so eingestellt, dass nur er etwas hören konnte. Deshalb war es ihm gar nicht recht, dass sein Handy blinkte, wie ein Vibrator zu brummen begann und die ersten Töne von Britney Spears’ »I’m Not a Girl« erklangen. Warum er dieses Lied so mochte, konnte er gar nicht sagen. Die zweite Textzeile, dass sie noch keine Frau sei, weckte vage Vorstellungen von einem minderjährigen Mädchen, Truls hoffte aber, dass ihn nicht das bewogen hatte, ausgerechnet diese Melodie als Klingelton zu wählen. Aber war es wirklich pervers, dass er sich bei dem Gedanken an Britney Spears in Schuluniform einen runtergeholt hatte? Und wenn schon, dann war er eben pervers. Viel mehr beunruhigte ihn, dass ihm die Nummer auf dem Display irgendwie bekannt vorkam. Das Finanzamt. Oder die Abteilung für interne Ermittlungen? Ein alter, zweifelhafter Kontakt, für den er mal Beweismaterial hatte verschwinden lassen? Jemand, dem er Geld oder einen Gefallen schuldete? Auf jeden Fall war es nicht Mona Daas Nummer. Vielleicht einfach ein Kollege, der ihn anrief, was dann wiederum bedeuten würde, dass er irgendeine Aufgabe bekam, die er dann erledigen musste. Von wem der Anruf auch kam, dachte Truls, es brachte ihm keine Vorteile ein, ihn anzunehmen. Er legte das Telefon in eine Schublade und konzentrierte sich auf Vic Mackey und dessen Kollegen vom Strike-Team. Er liebte Vic, The Shield war wirklich die einzige Polizeiserie, in der sie verstanden hatten, wie echte Polizisten dachten. Plötzlich, aus heiterem Himmel, wusste er, woher er die Nummer kannte. Er riss die Schublade auf und nahm das Telefon. »Kommissar Berntsen.«