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Zwei Sekunden lang blieb es am anderen Ende still, so dass er fürchtete, sie könnte bereits wieder aufgelegt haben. Aber dann war ihre Stimme da, sanft und liebkosend, direkt an seinem Ohr.

»Hallo, Truls, hier ist Ulla.«

»Ulla …?«

»Ulla Bellman.«

»Ulla, dass du mich anrufst.« Truls hoffte, dass er einigermaßen überzeugend klang. »Was kann ich für dich tun?«

Sie lachte leise. »Tja, was kannst du für mich tun? Ich habe dich heute in der Eingangshalle des Präsidiums gesehen, und da ist mir erst richtig klargeworden, wie lange wir schon nicht mehr miteinander geredet haben. Du weiß schon, so wie früher.«

Wir haben nie richtig miteinander geredet, dachte Truls.

»Sollen wir uns mal treffen?«

»Ja, gerne, warum nicht.« Truls versuchte, sein grunzendes Lachen zu ersticken.

»Schön. Was hältst du von Dienstag, da hat Mama die Kinder. Sollen wir irgendwo etwas trinken oder essen gehen?«

Truls traute seinen Ohren nicht. Ulla wollte ihn treffen. Wollte sie ihn wieder über Mikael ausfragen? Nein, sie musste wissen, dass er ihn nicht mehr so oft sah. Und außerdem: ein Glas trinken oder essen gehen? »Gerne. Hast du an was Bestimmtes gedacht?«

»Nur, dass es schön wäre, wenn wir uns mal wieder sehen würden. Ich habe nicht mehr zu so vielen von früher Kontakt.«

»Na dann«, sagte Truls. »Und wo?«

Ulla lachte. »Ich war seit Jahren nicht mehr aus. Ich weiß gar nicht, was es in Manglerud noch gibt. Du wohnst doch noch da, oder?«

»Schon, ja. Das Olsens unten in Bryn gibt es noch.«

»Wirklich? Na, dann lass uns doch dort treffen. Um acht?«

Truls nickte stumm, bis er sich besann und ein leises »Ja« murmelte.

»Und, Truls?«

»Ja?«

»Sag Mikael nichts von unserer Verabredung, okay?«

Truls hustete. »Nicht?«

»Nein. Dann sehen wir uns am Dienstag.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, starrte er noch lange auf das ­Telefon. War das wirklich passiert oder nur ein Echo der Tagträume, die er als Jugendlicher gehabt hatte? Truls war so glücklich, dass seine Brust zu platzen drohte. Und dann kam die Panik. Bestimmt würde wieder alles komplett schiefgehen. Wie immer.

Es war schiefgegangen.

Hatte natürlich nicht so bleiben können, wie es war. Es war eine Frage der Zeit gewesen, wann er aus dem Paradies vertrieben werden würde.

»Ein Bier«, sagte er und sah zu der jungen, sommersprossigen Frau auf, die an seinen Tisch gekommen war.

Sie war ungeschminkt, hatte die Haare zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengebunden und die Ärmel der weißen Bluse hochgekrempelt, als wollte sie irgendwo mit anpacken. Sie notierte die Bestellung auf einem Block, als erwartete sie eine längere Liste. Harry schloss daraus, dass sie neu war, immerhin endeten im Schrøder neun von zehn Bestellungen exakt da, wo seine geendet hatte.

In den ersten Wochen würde sie den Job hassen. Die derben Witze der männlichen Gäste und die schlecht versteckte Eifersucht der versoffensten Frauen. Kaum Trinkgeld, keine Musik, zu der man sich bewegen konnte, keine Flirts mit hübschen Jungs. Dafür aber reichlich streitsüchtige alte Alkoholiker, die sie abends, wenn sie dichtmachten, rausschmeißen musste. Sie würde sich fragen, ob das alles das bisschen Geld wert war, das sie sich hier zu ihrem Studienkredit dazuverdienen konnte, um sich das zentral gelegene WG-Zimmer leisten zu können. Harry wusste aber auch, dass sich das nach und nach verändern würde, wenn sie den ersten Monat erst hinter sich gebracht hatte. Irgendwann würde sie beginnen, über den ziemlich absurden Humor der Gäste zu lachen, und es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen. Wenn die weiblichen Gäste erkannt hatten, dass ihnen von der Neuen keine Gefahr drohte, würden sie sich ihr anvertrauen. Und dann würde sie auch Trinkgeld kriegen. Nicht viel, aber dafür ehrliches Geld, von ganzem Herzen gegeben, immer wieder verbunden mit aufmunternden, liebevollen Worten. Und sie würde einen Namen bekommen. Möglicherweise einen unerfreulich passenden, aber dieser Spitzname wäre wie ein Adels­titel in dieser unadeligen Gesellschaft. Klein Kari, Lenin, Rückspiegel, Bärin. Bei ihr würde es sicher etwas mit Sommersprossen und roten Haaren werden. Und während die Menschen in den WGs ein- und auszogen, Liebschaften kamen und gingen, würden diese Leute zu ihrer Familie werden. Eine herzensgute, spröde, nervenaufreibende, verlorene Familie.

Die junge Frau blickte von ihrem Block auf. »Ist das alles?«

»Ja«, erwiderte Harry mit einem Lächeln.

Sie hastete in Richtung Tresen, als stoppte jemand die Zeit. Und wer weiß, vielleicht stand Nina an der Bar und machte genau das.

Anders Wyller hatte eine SMS geschickt. Er wartete am Tattoos & Piercing in der Storgata auf ihn. Harry begann zu tippen, dass er sich allein darum kümmern müsse, als er hörte, wie jemand an seinem Tisch Platz nahm.

»Hallo, Nina«, sagte er, ohne den Blick zu heben.

»Hallo, Harry, Scheißtag?«

»Ja.« Er tippte das altmodische Smiley mit Doppelpunkt und Klammer.

»Und jetzt bist du hergekommen, um ihn noch beschissener zu machen?«

Harry antwortete nicht.

»Weißt du, was ich glaube, Harry?«

»Was glaubst du, Nina?« Sein Finger suchte nach Senden. »Ich habe gerade ein Bier bei Sommersprossen-Fia bestellt.«

»Belassen wir es vorläufig bei Marte. Und das Bier habe ich abbestellt. Der Teufel auf deiner rechten Schulter mag ja ein Bier wollen, aber der Engel auf deiner linken hat dich an einen Ort geführt, an dem dir kein Alkohol serviert wird und an dem es eine Nina gibt, von der du weißt, dass sie dir statt des Bieres einen Kaffee bringt, ein bisschen mit dir redet und dich dann nach Hause zu Rakel schickt.«

»Sie ist nicht zu Hause, Nina.«

»Ach, deshalb. Hat Harry Hole es wieder einmal geschafft, alles kaputtzumachen? Das könnt ihr Männer echt gut.«

»Rakel ist krank. Und ich brauche ein Bier, bevor ich Oleg anrufe.« Harry starrte auf sein Handy. Suchte immer noch nach Senden, als er Ninas weiche, warme Hand auf seiner spürte.

»Am Ende geht es in der Regel gut aus, Harry.«

Er sah sie an. »Nein, das tut es nicht. Oder kennst du irgend­jemanden, der überlebt hat?«

Sie lachte. »›Am Ende‹ liegt irgendwo zwischen dem, was dich jetzt belastet, und dem Tag, an dem uns nichts mehr belastet, Harry.«

Harry sah noch einmal auf sein Telefon. Dann tippte er stattdessen Olegs Namen und rief ihn an.

Nina stand auf und ging weg.

Oleg antwortete nach dem ersten Klingeln. »Gut, dass du anrufst. Wir haben gerade Kolloquium und diskutieren Paragraph 20 des Polizeigesetzes. Es stimmt doch, dass man den so deuten muss, dass ein Polizist auf jeden Fall einem Kollegen mit höherem Dienstgrad unterstellt ist und die Befehle, die dieser ihm gibt, befolgen muss, auch wenn sie nicht im gleichen Dezernat oder sogar in unterschiedlichen Polizeibezirken Dienst tun, oder? Der Dienstgrad ist entscheidend in einer schwierigen Situation, oder nicht? Komm schon, sag, dass ich recht habe! Ich habe nämlich mit den anderen beiden Idioten hier gewettet. Um ein Bier.« Harry hörte das Gelächter der Studienfreunde im Hintergrund.

Harry schloss die Augen. Es stimmte, es gab etwas, worauf er hoffen konnte, worauf er sich freuen konnte: die Zeit, wenn ­einem all die Last von den Schultern gefallen war und einen nichts mehr belastete.

»Schlechte Nachrichten, Oleg. Mama ist im Krankenhaus. Im Ullevål.«

»Ich nehme den Fisch«, sagte Mona zum Kellner. »Aber lassen Sie Kartoffeln, Sauce und Gemüse weg.«