Выбрать главу

Er zog die Gardinen vor. Setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, zog eine Spritze aus der Jackentasche und entfernte die Schutzkappe. Nahm ihren Arm. Betrachtete die Haut. Echte Haut. Er liebte echte Haut. Am liebsten hätte er sie geküsst, wusste aber, dass er sich beherrschen und an den Plan halten musste. Der Plan. Dann stach er ihr die Nadel der Spritze in den Arm. Spürte, wie sie widerstandslos in die Haut eindrang.

»So«, flüsterte er leise. »Jetzt nehme ich dich ihm weg. Jetzt gehörst du mir. Nur mir.«

Er drückte den Kolben durch und sah, wie der dunkle Inhalt in ihrem Arm verschwand. Sie mit Schwärze erfüllte. Und Schlaf.

»Präsidium?«, fragte Wyller.

Harry sah auf die Uhr. Zwei. In einer Stunde hatte er sich mit Oleg am Krankenhaus verabredet.

»Ullevål-Krankenhaus«, sagte er.

»Fühlst du dich schlecht?«

»Nein.«

Wyller wartete, dann legte er den Gang ein und fuhr los.

Harry sah aus dem Fenster und fragte sich, warum er niemandem etwas gesagt hatte. Katrine musste er einweihen, schon aus rein praktischen Gründen. Und darüber hinaus? Nein, warum?

»Ich habe gestern Father John Misty heruntergeladen«, sagte Wyller.

»Warum?«

»Weil du mir das empfohlen hast.«

»Habe ich? Dann muss es gut sein.«

Sie schwiegen, bis sie auf dem Ullevålsveien waren und hinter der Sankt-Olav-Domkirche in Richtung Nordahl Bruns gate im Verkehr steckenblieben.

»Halt mal da vorn an der Bushaltestelle«, sagte Harry. »Da ist jemand, den ich kenne.«

Wyller bremste und fuhr in die Haltebucht. Vor dem Wartehäuschen stand eine Gruppe Jugendlicher, wahrscheinlich war gerade Schulschluss. Die Kathedralschule, ja, auf die ging sie. Sie stand etwas abseits der laut redenden Gruppe, die Haare im Gesicht. Ohne eigentlichen Plan, was er sagen sollte, ließ Harry das Fenster herunter.

»Aurora!«

Ein Zucken ging durch den Körper des langbeinigen Mädchens, und wie eine verschreckte Antilope rannte es los. Harry blieb perplex sitzen und sah ihr im Seitenspiegel nach, während sie in Richtung Domkirche über den Ullevålsveien verschwand.

»Hast du immer diese Wirkung auf junge Mädchen?«, fragte Wyller.

Sie rennt gegen die Fahrtrichtung des Autos, dachte Harry, und das ohne nachzudenken. Sie muss sich vorher schon Gedanken darüber gemacht haben. Wenn du vor jemandem in einem Auto weglaufen musst, immer gegen die Fahrtrichtung. Warum oder was das zu bedeuten hatte, wusste er nicht. Vielleicht bloß irgendeine Teenagerangst. Oder eine Phase, wie Ståle es genannt hatte.

Etwas weiter den Ullevålsveien entlang wurde der Verkehr wieder flüssiger.

»Ich warte im Auto«, sagte Anders, als sie auf dem Kranken­hausgelände vor dem Eingang von Gebäude 3 hielten.

»Das kann aber eine Weile dauern«, sagte Harry. »Willst du nicht lieber in den Warteraum gehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Keine guten Krankenhauserinnerungen.«

»Hm. Deine Mutter?«

»Wie bist du draufgekommen?«

Harry zuckte mit den Schultern. »Es musste jemand sein, der dir sehr nahestand. Ich habe meine Mutter auch in einem Krankenhaus verloren, als ich klein war.«

»War das bei dir auch die Schuld des Arztes?«

Harry schüttelte den Kopf. »Nein, ihr war nicht mehr zu helfen. Deshalb habe ich mir die Schuld gegeben.«

Wyller verzog den Mund zu einem traurigen Lächeln. »Bei meiner Mutter war es einer dieser selbsternannten Götter in Weiß. Deshalb setze ich da keinen Fuß mehr rein.«

Auf dem Weg ins Krankenhaus bemerkte Harry einen Mann, der ihm mit einem Blumenstrauß vor dem Gesicht entgegenkam. Seltsam, dachte Harry, eigentlich geht man mit Blumen doch eher ins Krankenhaus hinein.

Oleg wartete auf einer der Sitzgruppen der Station. Sie umarmten sich im Beisein von Patienten und Besuchern um sie her­um, die Gespräche führten oder irgendwelche alten Magazine durchblätterten. Oleg fehlten nur noch ein paar Zentimeter, dann war er so groß wie Harry, der immer wieder vergaß, dass der Junge inzwischen ein ausgewachsener Mann war und er ihre Wette längst gewonnen hatte.

»Haben sie noch was gesagt?«, fragte Oleg. »Was es ist oder ob diese Scheiße gefährlich ist?«

»Nein«, sagte Harry. »Nein, aber mach dir keine Sorgen. Sie wissen schon, was sie tun. Sie ist ganz bewusst in ein künstliches Koma versetzt worden. Die haben alles unter Kontrolle. Okay?«

Oleg öffnete den Mund. Schloss ihn wieder und nickte. Und Harry sah es. Oleg hatte längst verstanden, dass Harry ihn schonen wollte und nicht die Wahrheit gesagt hatte. Und er hatte es zugelassen.

Ein Pfleger kam und sagte, dass sie jetzt zu ihr reingehen dürften.

Harry ging vor.

Die Jalousien waren heruntergelassen.

Er trat ans Bett. Sah ihr blasses Gesicht. Sie sah aus, als wäre sie weit weg.

Viel zu weit weg.

»A…atmet sie?«

Es war Oleg. Er war dicht hinter Harry getreten, wie er es immer als Kind getan hatte, wenn ihnen einer der großen Hunde oben am Holmenkollen entgegengekommen war.

»Ja«, sagte Harry und nickte in Richtung der blinkenden Maschinen.

Sie setzten sich rechts und links neben ihr Bett. Und starrten, wann immer sie meinten, dass der andere es nicht sah, auf die grüne, immer wieder ausschlagende Linie auf dem Monitor.

Katrine ließ den Blick über die unzähligen Hände schweifen.

Die Pressekonferenz dauerte jetzt schon knappe fünfzehn Minuten, und die Ungeduld im Saal war deutlich spürbar. Katrine fragte sich, ob es die Anwesenden am meisten aufbrachte, dass die Polizei keine Neuigkeiten über die Jagd nach Valentin Gjertsen hatte oder dass es keine Neuigkeiten von Valentin Gjertsens Jagd nach neuen Opfern gab. Seit seiner letzten Tat waren sechsundvierzig Stunden vergangen.

»Ich fürchte, ich kann Ihnen auf diese Frage nur wieder dieselbe Antwort geben«, sagte sie. »Wenn es keine anderen Fragen gibt …«

»Wie reagieren Sie darauf, dass Sie es jetzt mit drei und nicht mehr mit zwei Morden zu tun haben?«

Die Frage war von einem Journalisten ganz hinten im Saal gekommen.

Katrine konnte sehen, wie sich Unruhe unter den Anwesenden breitmachte. Sie schaute zu Bjørn Holm, der in der ersten Reihe saß, erntete aber nur ein Schulterzucken, schließlich beugte sie sich zum Mikrofon vor.

»Es ist möglich, dass einige von Ihnen Informationen haben, von denen wir noch keine Kenntnis besitzen, darauf muss ich also zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen.«

Eine andere Stimme: »Wir haben eine Nachricht aus dem Krankenhaus erhalten, Penelope Rasch ist tot.«

Katrine hoffte, dass ihr Gesicht nicht zur Gänze die Verwirrung zeigte, die sie fühlte. Penelope Rasch war doch außer Lebensgefahr gewesen.

»Wenn das so ist, beenden wir die Pressekonferenz jetzt und kommen darauf zurück, wenn wir mehr wissen.« Katrine packte ihre Papiere zusammen, verließ rasch das Podium und verschwand durch die Seitentür. »Wenn wir mehr wissen als ihr«, schimpfte sie leise vor sich hin.

Wütend stampfte sie über den Korridor. Was zum Henker war passiert? War während der Behandlung etwas schiefgelaufen? Sie konnte nur hoffen, dass es eine medizinische Erklärung gab, unvorhergesehene Komplikationen, eine plötzliche Verschlechterung oder einen Kunstfehler. An die Alternative, dass Valentin sein Versprechen gehalten und zurückgekommen war, wollte sie einfach nicht denken. Die Zimmernummer von Penelope war geheim, nur ihre nächsten Angehörigen hatten die bekommen.

Bjørn schloss zu ihr auf. »Ich habe gerade mit dem Krankenhaus gesprochen. Sie sagen, es handele sich um eine Vergiftung, die sie bisher noch nicht bemerkt hätten, gegen die sie aber wohl auch nichts hätten tun können.«

»Vergiftung? Von dem Biss, oder ist das im Krankenhaus passiert?«

»Das ist noch unklar, morgen wissen sie mehr.«

Was für ein verfluchtes Chaos. Katrine hasste Chaos. Und wo war Harry? Verdammte Scheiße!

»Vorsichtig, sonst trittst du noch ein Loch in den Boden«, sagte Bjørn leise.