Harry hatte Oleg gesagt, dass die Ärzte noch nichts wussten. Dass sie keine Ahnung hatten, wie es weitergehen würde. Danach hatten sie über praktische Dinge gesprochen, die jetzt zu regeln waren, auch wenn das nicht viel war. Und sie hatten geschwiegen, lange wortlos beieinandergesessen.
Harry sah auf die Uhr. Sieben.
»Du solltest nach Hause gehen«, sagte er. »Iss was und geh schlafen. Du musst ja morgen in die Schule.«
»Nur wenn ich weiß, dass du hier bist«, sagte Oleg. »Wir dürfen sie nicht allein lassen.«
»Ich bleibe hier, bis ich rausgeschmissen werde, was bald der Fall sein wird.«
»Aber bis dahin bleibst du? Und gehst nicht arbeiten?«
»Arbeiten?«
»Du bleibst hier und kümmerst dich nicht … um den Fall?«
»Natürlich nicht.«
»Ich weiß, wie du bist, wenn du an einem Mordfall sitzt.«
»Weißt du das?«
»An ein bisschen was kann ich mich erinnern. Und Mama hat mir auch das eine oder andere erzählt.«
Harry seufzte. »Ich bleibe hier. Ich verspreche es. Ehrenwort. Die Welt dreht sich auch ohne mich weiter, aber …« Er hielt inne, und die Fortsetzung blieb zwischen ihnen in der Luft hängen … nicht ohne sie.
Harry holte tief Luft. »Wie geht es dir?«
Oleg zuckte mit den Schultern. »Ich habe Angst. Und es tut weh.«
»Ich weiß. Geh jetzt und komm morgen nach der Schule wieder. Ich bin morgens hier.«
»Harry?«
»Ja?«
»Wird es morgen besser?«
Harry sah ihn an. Der Junge mit den braunen Augen und den schwarzen Haaren hatte nicht einen Tropfen Blut von ihm im Körper, trotzdem hatte er das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. »Was glaubst du?«
Oleg schüttelte den Kopf, und Harry sah, dass er mit den Tränen kämpfte.
»Tja«, sagte Harry. »Ich habe so wie du am Bett meiner Mutter gesessen, als sie krank war. Stunde um Stunde, Tag um Tag. Ich war damals noch ein kleiner Junge, aber das Ganze hat mich innerlich aufgefressen.«
Oleg wischte sich die Augen mit dem Handrücken ab und schniefte. »Würdest du dir wünschen, es nicht getan zu haben?«
Harry schüttelte den Kopf. »Nein, das ist ja das Komische. Wir haben nicht mehr viel geredet, sie war zu schwach. Lag einfach da, ein blasses Lächeln auf den Lippen, und verschwand immer mehr, wie die Farben auf einem Bild, das in der Sonne liegt. Es ist meine schlimmste, aber auch meine beste Erinnerung aus der Kindheit. Verstehst du das?«
Oleg nickte langsam. »Ich glaube schon.«
Sie nahmen sich zum Abschied in den Arm.
»Papa …«, flüsterte Oleg, und Harry spürte eine warme Träne an seinem Hals.
Er selbst konnte nicht weinen. Wollte nicht weinen. Fünfundvierzig Prozent, fünfundvierzig gute Prozent.
»Ich bin hier, mein Junge«, sagte Harry. Ruhige Stimme. Bedrücktes Herz. Er fühlte sich stark. Er konnte das schaffen.
Kapitel 19
Montagabend
Mona Daa hatte sich extra Joggingschuhe angezogen, trotzdem hallten ihre Schritte zwischen den Containern wider. Sie hatte ihr kleines Elektroauto am Tor geparkt und war ohne Zögern auf das dunkle, verlassene Containergelände gegangen, das heute eine Art Friedhof des ehemals so belebten Hafens darstellte. Die aneinandergereihten Container waren die Grabsteine der toten oder vergessenen Waren. Irgendwann einmal bestellt von mittlerweile bankrotten Empfängern, verschifft von Absendern, die es nicht mehr gab oder die ihre Waren nicht zurücknehmen konnten, so dass die Güter in ewigem Transit hier auf Sjursøya gestrandet waren und nun einen grellen Kontrast zu all der Erneuerung und Verschönerung des gleich nebenan liegenden Bjørvika-Areals bildeten, wo ein Prachtbau neben dem anderen in die Höhe gezogen wurde. Die Krone bildete das eisklotzartige Opernhaus. Mona war überzeugt, dass es als Monument des Ölzeitalters überdauern würde, wie ein Tadsch Mahal der Sozialdemokratie.
Mona nutzte die mitgebrachte Taschenlampe, um sich zu orientieren. Buchstaben und Zahlen auf dem Asphalt wiesen ihr den Weg. Sie trug schwarze Tights und eine schwarze Trainingsjacke. In der einen Tasche hatte sie Pfefferspray und ein Vorhängeschloss, in der anderen die Pistole, eine 9-mm-Walther, die sie sich von ihrem Vater, ohne dass er es wusste, ausgeborgt hatte. Er hatte nach dem Medizinstudium als Sanitätsleutnant gearbeitet, seine Waffe aber nie zurückgegeben. Unter dem dünnen Stoff der Jacke und dem Brustgurt mit dem Pulsmesser schlug ihr Herz immer schneller.
H23 lag zwischen zwei Reihen von dreifach übereinandergestapelten Containern. Es war wirklich ein Käfig, in dem ein großes Tier transportiert worden sein musste. Ein Elefant oder eine Giraffe, vielleicht auch ein Flusspferd. Die eine Schmalseite des Käfigs konnte komplett geöffnet werden, war jetzt aber mit einem verrosteten Vorhängeschloss verriegelt. In der Mitte der längeren Seite war eine kleinere, unverschlossene Tür, vermutlich für die Tierpfleger, wenn sie Futter brachten oder den Käfig reinigten.
Die Scharniere kreischten, als sie die Tür an den Gitterstäben aufzog und sich ein letztes Mal umsah. Vermutlich war er bereits hier und überzeugte sich, irgendwo in den Schatten zwischen den Containern versteckt, dass sie wie vereinbart allein kam.
Zweifel oder Zögern war jetzt fehl am Platz, sie machte es so, als müsste sie während eines Wettkampfs schwere Gewichte heben. Sagte sich, dass die Entscheidung längst gefallen war, sie nicht mehr darüber nachzudenken brauchte und einfach zur Tat schreiten musste. Sie ging hinein, nahm das mitgebrachte Vorhängeschloss aus der Tasche und verriegelte damit die Tür. Den Schlüssel steckte sie sich in die Tasche.
Der Käfig roch nach Urin, ob von Tieren oder Menschen, wusste sie nicht. In der Mitte des Käfigs hob sie den Blick.
Er konnte von links oder rechts kommen. Oder war er auf einen der gestapelten Container geklettert und redete von oben mit ihr? Sie schaltete das Mikro ihres Handys ein und legte es auf den stinkenden Stahlboden. Dann schob sie den linken Ärmel hoch und warf einen Blick auf ihre Uhr. 19.59. Auch den rechten Ärmel schob sie hoch. Ihr Puls lag bei 128.
»Hallo, Katrine, ich bin’s.«
»Gut, dass du anrufst, Harry. Ich hab dich zu erreichen versucht, hast du meine Nachrichten nicht bekommen? Wo bist du?«
»Zu Hause.«
»Penelope Rasch ist tot.«
»Komplikationen. Ich habe es in der Onlineausabe der VG gelesen.«
»Und?«
»Ich musste mir in den letzten Stunden über ein paar andere Dinge Gedanken machen.«
»Ach ja? Und was?«
»Rakel ist im Krankenhaus. Ullevål.«
»Oh. Was Ernstes?«
»Ja.«
»Mein Gott, Harry. Ernst, etwa in …?«
»Wir wissen es nicht. Ich bin vorläufig raus bei den Ermittlungen. Ich bleibe bis auf weiteres im Krankenhaus.«
Pause.
»Katrine?«
»Ja? Ja, natürlich. Tut mir leid, das ist alles nur ein bisschen viel auf einmal. Trotzdem, ich habe vollstes Verständnis für dich. Ich bin ganz auf deiner Seite. Aber Harry, Mensch, Scheiße, hast du jemanden, mit dem du darüber reden kannst? Willst du, dass ich komme …?«
»Danke, Katrine, aber konzentriere dich auf diesen Kerl. Ich werde die Gruppe auflösen, du musst also mit dem zurechtkommen, was du hast. Arbeite mit Smith zusammen. Er hat zwar noch kürzere soziale Antennen als ich, aber er hat keine Angst und ist in der Lage, sich gedanklich auf unbekanntes Terrain zu wagen. Und Anders Wyller ist interessant. Gib ihm etwas mehr Verantwortung und schau, wie er sich macht.«
»Daran hatte ich auch schon gedacht, Harry. Ruf an, wenn etwas ist, egal, was.«
»Mach ich.«
Harry legte auf und erhob sich. Ging zur Kaffeemaschine und hörte, wie seine Füße über den Boden schlurften. Er hatte noch nie geschlurft, nie, dachte er, als er mit der Kanne in der Hand dastand und sich in der leeren Küche umsah. Er wusste nicht mehr, wo er die Kaffeetasse hingestellt hatte, stellte die Kanne wieder ab, setzte sich an den Küchentisch und wählte Bellmans Nummer. Der Anrufbeantworter meldete sich. Egal, dachte er, viel zu sagen gab es ja eh nicht.