»Hier ist Hole. Meine Frau ist krank, ich steige aus. Endgültig.«
Er blieb sitzen und sah aus dem Fenster auf die Lichter der Stadt.
Dachte an den tonnenschweren Wasserbüffel, an dessen Kehle ein Löwe hing. Seine Wunden bluteten, er hatte aber noch viel Blut, und wenn es ihm gelang, den Löwen abzuschütteln, konnte er ihn mit seinen Hufen tottrampeln oder mit den Hörnern aufspießen. Aber es eilte, die Luftröhre wurde immer enger, und er brauchte Luft. Außerdem waren weitere Löwen auf dem Weg, das Rudel hatte das Blut gewittert.
Er sah die Lichter und dachte, dass sie ihm nie weiter entfernt vorgekommen waren.
Der Verlobungsring. Valentin hatte ihr einen Ring gegeben und war zurückgekommen. Genau wie der Verlobte. Verdammt. Er verdrängte den Gedanken. Es war an der Zeit, den Kopf auszuschalten. Ausschalten, zusperren und nach Hause gehen.
So, ja.
Um 20.14 Uhr hörte Mona Daa ein Geräusch aus dem Dunkeln, das immer undurchdringlicher wurde, seit sie in den Käfig getreten war. Sie sah eine Bewegung. Etwas kam auf sie zu. Sie war die wenigen Fragen, die sie vorbereitet hatte, wieder und wieder durchgegangen und hatte sich gefragt, ob sie mehr Angst davor hatte, dass er kam oder dass er nicht kam. Jetzt wusste sie die Antwort. Sie spürte das Herz bis zum Hals schlagen und umklammerte die Pistole in ihrer Jackentasche. Im Keller ihrer Eltern hatte sie aus sechs Metern Abstand ein paar Probeschüsse auf den alten Regenmantel an der Wand abgegeben und getroffen.
Es kam aus dem Dunkeln und bewegte sich ins Licht der Scheinwerfer des Frachtschiffs, das wenige Hundert Meter entfernt bei den Betonsilos vor Anker lag.
Es war ein Hund.
Er lief um den Käfig herum und sah zu ihr hinein.
Wahrscheinlich ein herrenloses Tier. Er war dünn, trug kein Halsband, und sein Fell war so ungepflegt, dass er kaum woanders leben konnte als hier draußen auf dem Containerfriedhof. Als kleines Mädchen mit Katzenallergie hatte sie sich immer einen solchen Hund gewünscht. Hatte davon geträumt, dass er ihr eines Tages einfach nach Hause nachlief und ihr nie wieder von der Seite wich.
Mona begegnete dem kurzsichtigen Blick des Hundes, glaubte zu verstehen, was das Tier dachte – ein Mensch im Käfig –, und sein stilles Lachen hören zu können.
Nachdem der Hund sie eine Weile betrachtet hatte, stellte er sich parallel zum Seitengitter, hob das Hinterbein und pinkelte auf den Stahlboden.
Dann lief er weiter und verschwand im Dunkeln.
Ohne die Ohren gespitzt oder Witterung aufgenommen zu haben.
In diesem Moment war Mona klargeworden, dass niemand kommen würde.
Sie sah auf ihre Pulsuhr. 119. Sinkend.
Er war nicht hier. Aber wo war er dann?
Harry sah etwas im Dunkeln.
Vor dem Haus, außerhalb der Lichtkegel von Fenstern und Treppenlampe. Es war der Umriss einer Person, die mit hängenden Armen regungslos dastand und zum Küchenfenster emporblickte, hinter dem Harry saß.
Er senkte den Kopf und starrte auf seine Kaffeetasse, als hätte er die Gestalt da draußen nicht gesehen. Seine Dienstwaffe lag oben im ersten Stock.
Sollte er hinaufgehen und sie holen?
Andererseits, wenn es wirklich der Gejagte war, der sich dem Jäger näherte, wollte er ihn nicht vertreiben.
Harry stand auf, streckte sich und wusste, dass er in der hellerleuchteten Küche gut zu sehen war. Er ging ins Wohnzimmer, dessen Fenster auf derselben Seite lagen, und nahm ein Buch. Dann machte er zwei schnelle Schritte zur Seite, schlüpfte durch die Tür in den Flur, nahm die Heckenschere, die Rakel neben ihre Stiefel gestellt hatte, riss die Haustür auf und stürmte nach draußen.
Die Gestalt rührte sich noch immer nicht. Harry blieb stehen.
Kniff die Augen zusammen.
»Aurora?«
Harry kramte im Küchenschrank herum. »Kardamom, Zimt, Kamille. Rakel hat verdammt viele Teesorten. Ich trinke eigentlich nur Kaffee und weiß wirklich nicht, was ich dir empfehlen kann.«
»Zimt klingt gut«, sagte Aurora.
»Hier«, sagte Harry und reichte ihr die Packung.
Sie nahm einen Teebeutel heraus, und Harry beobachtete, wie sie den Beutel in das dampfende Wasser tauchte.
»Du bist im Präsidium einfach abgehauen«, sagte er.
»Ja«, erwiderte sie nur und wickelte den Beutel um einen Teelöffel.
»Und an der Bushaltestelle auch.«
Sie antwortete nicht, ihre Haare hingen ihr wieder ins Gesicht.
Er setzte sich und trank einen Schluck Kaffee. Gab ihr die Zeit, die sie brauchte. Befüllte die Stille nicht mit Worten, die Antworten verlangten.
»Ich hab nicht gesehen, dass du das warst«, sagte sie schließlich. »Das heißt, doch, ich hab’s gesehen, aber da hatte ich schon Angst, und es dauert manchmal eine ganze Weile, bis mein Hirn meinen Körper davon überzeugt hat, dass alles gut ist. Da war mein Körper schon eine ganze Strecke gelaufen.«
»Hm, hast du Angst vor etwas?«
Sie nickte. »Es geht um Papa.«
Harry bereitete sich innerlich vor, er wollte nicht weiter, wollte diesen Raum nicht betreten. Aber es führte kein Weg daran vorbei.
»Was hat er getan?«
Tränen stiegen ihr in die Augen. »Er hat mich vergewaltigt und gesagt, dass ich das niemals jemandem sagen darf. Denn dann würde er sterben …«
Die Übelkeit kam so plötzlich, dass Harry für einen Moment die Luft wegblieb. Magensäure stieg ihm den Hals hoch.
»Papa hat gesagt, dass er dann stirbt …?«, fragte Harry.
»Nein, nein!« Der plötzliche, wütende Protest hallte zwischen den Küchenwänden wider. »Der Mann, der mich vergewaltigt hat, hat gesagt, dass er Papa umbringt, sollte ich mit jemandem darüber reden. Er hat gesagt, dass er das schon mal fast getan hätte und dass ihm beim nächsten Mal niemand mehr in die Quere kommt.«
Harry blinzelte. Versuchte die seltsame Mischung aus Erleichterung und Schock zu verdauen. »Du bist vergewaltigt worden?«, fragte er bewusst ruhig.
Sie nickte, begann zu schluchzen und wischte sich die Tränen weg. »Auf dem Mädchenklo beim Handballturnier. An dem Tag, an dem ihr geheiratet habt. Rakel und du. Er hat das getan und ist dann einfach gegangen.«
Harry fühlte sich wie im freien Fall.
»Kann ich den hier irgendwo wegwerfen?« Der Teebeutel baumelte tropfend über der Tasse.
Harry streckte ihr die Hand hin.
Aurora sah ihn unsicher an, dann ließ sie den Teebeutel fallen. Harry ballte eine Faust, spürte das heiße Wasser auf seiner Haut brennen und zwischen den Fingern heraussickern. »Hat er dich verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat mich festgehalten, und ich habe blaue Flecken bekommen. Mama habe ich gesagt, die kämen vom Spiel.«
»Willst du damit sagen, dass du das alles bis jetzt geheim gehalten hast?«
Sie nickte.
Harry wäre am liebsten aufgestanden und um den Tisch herumgegangen, um sie in die Arme zu nehmen. Doch er musste an das denken, was Smith über Nähe und Intimität gesagt hatte.
»Warum kommst du jetzt und erzählst mir das?«
»Weil er andere Menschen tötet. Ich habe die Zeichnung in der Zeitung gesehen. Das ist er. Der Mann mit den komischen Augen. Du musst mir helfen, Onkel Harry. Du musst mir helfen, auf Papa aufzupassen.«
Harry nickte. Er atmete durch den geöffneten Mund.
Aurora legte den Kopf besorgt schief. »Onkel Harry?«
»Ja?«
»Weinst du?«
Im Mundwinkel spürte Harry den salzigen Geschmack der ersten Träne. Verdammt!
»Tut mir leid«, sagte er mit belegter Stimme. »Wie war der Tee?«
Er hob den Kopf, begegnete ihrem Blick, der sich vollkommen verändert hatte. Als hätte sich etwas geöffnet. Als sähe sie zum ersten Mal seit langem wieder durch ihre schönen Augen nach draußen und nicht nach innen, wie bei ihren letzten Begegnungen.
Aurora stieß an die Teetasse, als sie aufstand und um den Tisch herumging. Sie beugte sich über Harry und nahm ihn in die Arme. »Alles wird gut«, sagte sie. »Alles wird gut.«