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Marte Ruud ging zu dem Gast, der gerade durch die Tür des leeren Schrøder gekommen war.

»Tut mir leid, aber wir schließen in zehn Minuten. Der Zapfhahn ist schon abgedreht.«

»Geben Sie mir einen Kaffee«, sagte er mit einem Lächeln. »Ich trinke den auch schnell.«

Sie ging zurück zum Tresen. Der Koch war schon vor einer Stunde gegangen, ebenso Nina. Montagabends war so spät nur noch eine Bedienung im Laden, aber trotz der Ruhe war sie angespannt. Sie war zum ersten Mal allein. Nina wollte später, nach Kneipenschluss, noch einmal zurückkommen, um ihr bei der Abrechnung zu helfen.

Schnell kochte sie etwas Wasser im Wasserkocher und goss ­einen löslichen Kaffee auf, den sie dem Mann brachte.

»Darf ich Sie etwas fragen«, sagte er und blickte auf die dampfende Tasse. »Da jetzt nur Sie und ich hier sind.«

»Klar«, sagte Marte, obwohl sie eigentlich nein meinte und nur wollte, dass er seinen Kaffee austrank und ging, damit sie endlich schließen und auf Nina warten konnte. Sie wollte nach Hause. Am nächsten Tag hatte sie schon um Viertel nach acht die erste Vorlesung.

»Ist das hier nicht die Kneipe, in die immer dieser bekannte Kommissar geht? Harry Hole?«

Marte nickte. Sie hatte nichts über den Mann gehört, bis er plötzlich da gewesen war. Ein großer Kerl mit einer hässlichen Narbe im Gesicht. Erst danach hatte Nina lange über ihn gesprochen.

»Wo sitzt der denn immer?«

»Angeblich da«, sagte Marte und zeigte auf den Ecktisch am Fenster. »Aber er kommt nicht mehr so oft wie früher.«

»Nein, wenn er diesen armseligen Perversen, wie er ihn genannt hat, hinter Schloss und Riegel bringen will, hat er sicher anderes zu tun. Aber sein Stammlokal ist es deshalb ja noch immer, oder?«

Marte nickte lächelnd, obwohl sie alles andere als sicher war, den Mann richtig verstanden zu haben.

»Wie heißen Sie?«

Marte zögerte, die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel ihr nicht. »Wir schließen in sechs Minuten, wenn Sie Ihren Kaffee also noch trinken wollen, sollten Sie …«

»Wissen Sie, woher Sie Ihre Sommersprossen haben, Marte?«

Sie erstarrte, und ihr wurde kalt. Woher kannte er ihren Namen?

»Wissen Sie, als Sie klein waren und noch keine Sommersprossen hatten, sind Sie mal in der Nacht aufgewacht. Sie hatten kabuslar, Alpträume, und sind voller Angst ins Schlafzimmer Ihrer Mutter gelaufen, um getröstet zu werden. Damit sie Ihnen sagt, dass es keine Monster und Gespenster gibt. Aber auf der Brust Ihrer Mutter kauerte ein nackter blauschwarzer Gnom mit spitzen Ohren, dem das Blut aus den Mundwinkeln lief. Und als Sie wie versteinert stehen blieben und ihn anstarrten, blies er die Wangen auf, prustete all das Blut, das er im Mund hatte, in Ihre Richtung. Ihr Gesicht und Ihre Brust waren von kleinen Tröpfchen übersät. Und dieses Blut, Marte, ging einfach nicht mehr weg, wie sehr Sie sich auch gewaschen und es wegzuschrubben versucht haben.« Der Mann blies in seine Tasse. »Jetzt wissen Sie, wie Sie diese Sommersprossen bekommen haben, nicht aber, warum. Die Antwort auf Letzteres ist ebenso einfach wie unbefriedigend, Marte. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Welt ist einfach nicht sonderlich gerecht.« Er führte die Tasse an die Lippen, riss den Mund auf und schüttete den noch dampfend heißen Kaffee in seinen Mund. Vor Entsetzen blieb ihr die Luft weg. Sie sah den Tropfennebel nicht, bis die heiße Flüssigkeit sie mitten ins Gesicht traf.

Wie geblendet, voller Angst, wandte sie sich um und rutschte auf dem Kaffee aus. Sie knallte mit den Knien auf den Boden, rappelte sich aber wieder hoch und stürmte, sich den Kaffee aus den Augen reibend, in Richtung Ausgang. Dabei warf sie einen Stuhl um, um ihm den Weg zu versperren. Ihre Finger legten sich um die Türklinke, drückten sie nach unten, aber die Tür rührte sich nicht, wie sehr sie auch daran zerrte. Er musste abgeschlossen haben. Knirschende Schritte drangen ihr ans Ohr, als sie Daumen und Zeigefinger um das kleine Drehschloss legte. Weiter kam sie nicht, denn seine Hände packten von hinten ihren Gürtel und zerrten sie zurück. Marte fiel auf alle viere. Sie versuchte zu schreien, brachte aber nur ein leises Wimmern heraus. Schritte. Er stand jetzt vor ihr. Sie blieb auf allen vieren, wollte den Blick nicht heben, wollte ihn nicht sehen. Als kleines Mädchen hatte sie nie Alpträume von einem blauschwarzen Gnom gehabt, sondern von einem Mann mit Hundekopf. Und in diesem Moment wusste sie, dass sie genau das sehen würde, wenn sie jetzt den Kopf hob. Deshalb starrte sie nach unten auf die Spitzen der Cowboystiefel.

Kapitel 20

Nacht auf Dienstag

»Ja?«

»Harry?«

»Ja.«

»Ich war mir nicht sicher, ob das wirklich deine Nummer ist. Hier ist Nina. Aus dem Schrøder. Ich weiß, dass es halb zwei ist, und es tut mir leid, dass ich dich wecke.«

»Ich habe nicht geschlafen, Nina.«

»Ich habe schon die Polizei angerufen, aber die … ja, sie waren hier und sind wieder gegangen.«

»Immer mit der Ruhe, Nina. Was ist denn passiert?«

»Es geht um Marte, die Neue, die du kennengelernt hast, als du das letzte Mal hier warst.«

Harry dachte an die hochgekrempelten Ärmel und ihren Diensteifer.

»Ja?«

»Sie ist verschwunden. Ich bin kurz vor Mitternacht zurückgekommen, um ihr mit der Kasse zu helfen, aber da war niemand hier. Die Tür war nicht zugeschlossen. Aber Marte ist ordentlich, und wir hatten eine Abmachung. Die ist nicht einfach gegangen, ohne abzuschließen. Sie geht auch nicht ans Telefon, und ihr Freund sagt, dass sie nicht nach Hause gekommen ist. Die Polizei überprüft gerade die Ambulanzen und Krankenhäuser, nichts. Und diese Polizistin hat gesagt, dass immer wieder Menschen auf seltsame Weise verschwinden und dann doch ein paar Stunden später mit einer plausiblen Erklärung wieder auftauchen. Sie haben gesagt, dass ich noch mal anrufen soll, wenn Marte im Laufe der nächsten zwölf Stunden nicht aufgetaucht ist.«

»Hm. Es stimmt, was sie sagen, Nina. Das ist die übliche Vorgehensweise.«

»Ja, aber … hallo?«

»Ich bin dran, Nina.«

»Als ich aufgeräumt habe und abschließen wollte, habe ich gesehen, dass jemand etwas auf eine Tischdecke geschrieben hat. Wie es aussieht mit einem Lippenstift. Genau das Rot, das Marte trägt.«

»Und? Was steht da?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Nein. Nur so ein Haken. Wie ein V. Auf deinem Platz.«

Drei Uhr nachts.

Ein anschwellendes Brüllen entwich seiner Kehle und hallte zwischen den kahlen Kellerwänden wider. Harry starrte an die Stahlstange, die sich beängstigend auf ihn herabzusenken und ihn zu zerquetschen drohte. Mit zitternden Armen drückte er sie von sich weg und ließ sie mit letzter Kraft auf die Halterung krachen, so dass die Gewichte klirrend aneinanderstießen. Er blieb auf der Bank liegen und rang nach Atem. Schloss die Augen. Er hatte Oleg versprochen, bei Rakel zu sein. Aber er musste weg. Musste ihn fassen. Für Marte. Für Aurora.

Nein.

Es war zu spät. Zu spät für Aurora. Zu spät für Marte. Dann musste er es für diejenigen tun, die noch keine Opfer waren und die er noch vor Valentin retten konnte.

Denn er machte das doch für sie, oder?

Harry packte noch einmal die Stange und spürte das Gewicht.

Etwas, wozu du zu gebrauchen bist.

Sein Großvater hatte gesagt, dass man nur das brauchte, wozu man zu gebrauchen war. Als die Großmutter Harrys Vater zur Welt bringen sollte, verlor sie so viel Blut, dass die Hebamme den Doktor rief. Großvater sagte man, dass er nichts tun könne, um zu helfen. Als er ihre Schreie nicht mehr ertrug, ging er nach draußen, spannte das alte Pferd an und begann zu pflügen. Er trieb das Tier mit der Peitsche an und schrie so laut, dass seine Schreie die Schreie aus dem Haus übertönten. Und als der treue schwarze Gaul zu schwanken begann, spannte er sich selbst vor den Pflug. Als es im Haus still wurde und der Doktor aus dem Haus kam und sagte, dass Mutter und Kind überleben würden, war Großvater auf die Knie gefallen, hatte die Erde geküsst und dem Gott gedankt, an den er nicht glaubte.