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Steffens begegnete Harrys Blick. Vielleicht war es die Situation, die Harry die Frage stellen ließ – zwei Männer, die sich in einem abgedunkelten Raum gegenübersaßen. Wie zwei Schiffe, die in der Nacht aneinander vorbeifuhren. Steffens nahm die Brille ab und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er die Müdigkeit wegwischen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein.«

»Aber Sie tun es trotzdem?«

»Es ist eine Berufung.«

»Ja, ich habe das Kruzifix in Ihrem Zimmer gesehen. Sie glauben an Berufung.«

»Ich glaube, dass Sie das auch tun, Hole. Ich habe Sie gesehen. Vielleicht ist es nicht Gott, der Sie berufen hat, aber den Ruf ­spüren Sie trotzdem.«

Harry starrte in seinen Becher. Steffens hatte mit dem faszinierend schlecht wirklich recht. »Heißt das, dass Sie Ihre Arbeit nicht mögen?«

»Ich hasse meine Arbeit«, sagte der Oberarzt mit einem Lächeln. »Hätte ich wählen können, wäre ich Konzertpianist geworden.«

»Hm. Sind Sie denn ein guter Pianist?«

»Es ist ein Fluch, wenn man für das, was man liebt, nicht gut genug ist, wohl aber für das, was man hasst, nicht wahr?«

Harry nickte. »Ja, es ist ein Fluch. Wir tun das, wozu wir zu gebrauchen sind.«

»Und es ist eine Lüge, dass derjenige, der seiner Berufung folgt, belohnt wird.«

»Manchmal ist die Arbeit vielleicht die Belohnung.«

»Nur für Konzertpianisten, die Musik lieben, oder für Henker, die Blut brauchen.« Steffens zeigte auf das Namensschild auf ­seinem Arztkittel. »Ich bin geboren und aufgewachsen als Mormone in Salt Lake City, benannt nach John Doyle Lee, einem gottesfürchtigen, friedliebenden Mann, der 1857 von den Ältesten in der Gemeinde den Befehl erhielt, eine Gruppe ungläubiger Immigranten zu massakrieren, die sich auf ihrem Terrain breitgemacht hatten. In seinem Tagebuch hat er die Seelenqualen festgehalten: dass es ein schrecklicher Ruf sei, den das Schicksal ihm zugedacht habe, dass er ihn aber trotzdem akzeptieren müsse.«

»Das Massaker in Mountain Meadows.«

»Sieh mal an. Sie kennen sich in der Geschichte aus.«

»Ich habe mich beim FBI intensiv mit Serienmorden beschäftigt, und wir sind dabei so ziemlich alle Massenmorde durchgegangen. Ich muss aber gestehen, dass ich nicht mehr weiß, wie es Ihrem Namensvetter ergangen ist.«

Steffens sah auf die Uhr. »Eine Belohnung wurde ihm hoffentlich im Himmel zuteil, auf Erden wurde John Doyle Lee von allen verraten, sogar von unserem geistigen Führer Brigham Young. Er wurde zum Tode verurteilt. Mein Vater war aber wohl der Meinung, dass es durchaus vorbildlich ist, auf die Anerkennung der Mitmenschen zu verzichten und stattdessen seinem Ruf zu folgen, auch wenn man ihn hasst.«

»Vielleicht hasste John Doyle Lee ihn nicht so sehr wie er vorgab.«

»Wie meinen Sie das?«

Harry zuckte mit den Schultern. »Ein Alkoholiker hasst und verflucht den Alkohol, weil er sein Leben zerstört. Dabei ist er gleichzeitig sein Leben.«

»Interessante Allegorie.« Steffens stand auf, trat ans Fenster und zog die Gardine auf. »Und was ist mit Ihnen, Hole? Ist der Ruf noch immer Ihr Leben? Und wird er es zerstören?«

Harry hielt sich die Hand über die Augen und versuchte, Steffens zu sehen, aber all das plötzlich eindringende Licht blendete ihn. »Sind Sie noch immer Mormone?«

»Und bearbeiten Sie noch immer den Fall?«

»Sieht so aus.«

»Wir können nichts anderes, oder? Ich muss arbeiten, Harry.«

Als Steffens gegangen war, rief Harry Gunnar Hagen an.

»Hallo, Chef, ich brauche im Krankenhaus Ullevål einen Polizeiposten«, sagte er. »Sofort.«

Wyller stand da, wo er stehen sollte, hinter der Motorhaube des Wagens, der quer vor dem Eingang geparkt war.

»Ich habe einen Polizisten kommen sehen«, sagte er. »Alles in Ordnung?«

»Wir platzieren eine Wache vor ihrer Tür«, sagte Harry und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

Wyller steckte die Dienstwaffe ins Holster und setzte sich hinters Steuer. »Und Valentin?«

»Das wissen die Götter.«

Harry nahm das Haar aus der Jackentasche. »Vermutlich nur Paranoia, aber sag der Rechtsmedizin, dass sie davon eine Expressanalyse machen sollen, um auszuschließen, dass es eine Übereinstimmung mit einem der Tatorte gibt. Okay?«

Sie fuhren langsam zurück, wie in einer rückwärts laufenden Zeitlupe der rasanten Fahrt zwanzig Minuten zuvor.

»Haben Mormonen eigentlich ein Kreuz?«, fragte Harry.

»Nein«, sagte Wyller. »Ihrer Meinung nach symbolisiert das Kreuz den Tod, für sie ist das ein heidnisches Symbol. Sie glauben an die Auferstehung.«

»Hm, dann ist ein Mormone mit einem Kreuz an der Wand so etwas wie …«

»Wie ein Muslim mit einer Zeichnung von Mohammed.«

»Genau.« Harry drehte die Musik, die im Radio lief, lauter. The White Stripes. »Blue Orchid«. Gitarre und Schlagzeug. Nackt. Pur.

Er drehte sie noch lauter, ohne zu wissen, was er zu übertönen versuchte.

Hallstein Smith drehte Däumchen. Er war allein im Heizungsraum und konnte ohne die anderen nicht viel machen. Er hatte ein Kurzprofil des Vampiristen verfasst, im Internet gesurft und alles gelesen, was seit dem ersten Mord über diesen Fall geschrieben worden war. Er fragte sich gerade, ob er die Zeit nutzen sollte, um an seiner Doktorarbeit weiterzumachen, als sein Telefon klingelte.

»Hallo?«

»Smith?«, sagte eine weibliche Stimme. »Hier ist Mona Daa, von der VG

»Oh.«

»Sie klingen überrascht.«

»Ja, ich dachte, wir hätten hier unten schlechten Empfang.«

»Apropos Empfang, können Sie bestätigen, dass der Vampirist aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Verschwinden einer Angestellten des Schrøders in der letzten Nacht zu tun hat?«

»Bestätigen? Ich?«

»Ja, Sie arbeiten doch jetzt für die Polizei, oder?«

»Schon, das stimmt, aber ich bin nicht in der Position, irgendetwas zu sagen.«

»Weil Sie es nicht wissen oder nicht dürfen?«

»Vermutlich beides. Wenn, dann kann ich mich nur sehr allgemein als Experte für Vampirismus äußern.«

»Gut! Denn ich habe vor, einen Podcast …«

»Einen was?«

»Die VG hat einen eigenen Radiosender.«

»Ach so.«

»Darf ich Sie hierher zu uns einladen, um über den Vampiristen zu reden? Ganz allgemein, natürlich.«

Hallstein Smith dachte nach. »Dafür müsste ich erst die Genehmigung der Ermittlungsleitung einholen.«

»Gut, dann freue ich mich darauf, wieder von Ihnen zu hören. Und noch etwas anderes, Smith. Ich gehe davon aus, dass Sie mit dem Artikel, den ich über Sie geschrieben habe, zufrieden waren? Indirekt sind Sie dadurch ja ins Zentrum des Geschehens gerückt.«

»Ja, doch.«

»Könnten Sie mir dafür als Gegenleistung sagen, wer bei Ihnen im Haus mich gestern Abend in den Containerhafen gelockt hat?«

»Wohin gelockt?«

»Ach, egal, einen schönen Tag noch.«

Hallstein Smith blieb sitzen und starrte auf sein Telefon. Containerhafen? Wovon redete diese Frau?

Truls Berntsen ließ den Blick über den Bildschirm mit Fotos von Megan Fox schweifen. Es war wirklich beängstigend, wie sehr sie abgenommen hatte. Waren es nur die Fotos oder die Gewissheit, dass auch sie mittlerweile über dreißig war und dass die Geburt eines Kindes auch an einem Frauenkörper, der noch 2007 in Transformers das Sinnbild des Perfekten gewesen war, nicht spurlos vorbeiging? Oder war das alles der Tatsache geschuldet, dass er selbst in den letzten zwei Jahren acht Kilo Fett abgenommen, dieses durch vier Kilo Muskeln ersetzt und mit neun Frauen geschlafen hatte? Hatte sich der entfernte Traum von Megan Fox dadurch noch etwas weiter entfernt? Wie ein Lichtjahr weniger als zwei ist. Oder war es bloß der Gedanke, dass er in zehn Stunden mit Ulla Bellman zusammensitzen sollte, der einzigen Frau, die er noch mehr begehrte als Megan Fox?