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Mehmet schluckte.

Dann zog er die Tür auf und trat ein. Dichter Dampf wirbelte auf und zerriss zu einer Art Korridor, durch den Mehmet für ­einen Augenblick das Gesicht des Mannes sah, der in der zweiten Bankreihe ihm gegenüber saß. Ihre Blicke begegneten sich. Dann schlossen die Dampfwände sich wieder, und das Gesicht verschwand.

Mehmet hatte genug gesehen.

Das war der Mann, der an jenem Abend in seine Kneipe gekommen war.

Sollte er gleich wieder nach draußen gehen oder sich hinsetzen? Der Mann hatte bestimmt gesehen, wie Mehmet ihn angestarrt hatte, und schöpfte möglicherweise Verdacht, wenn er jetzt sofort wieder ging.

Mehmet blieb an der Tür stehen, hatte aber mehr und mehr das Gefühl, als würde der Dampf, den er einatmete, ihm die Luft abschnüren. Irgendwann konnte er nicht mehr. Er musste raus. Vorsichtig drückte er die Tür auf, schlüpfte nach draußen und lief mit kurzen, vorsichtigen Schritten über die glatten Fliesen, bis er schließlich wieder in der Umkleide war. Fluchend versuchte er, sich an den Code des Vorhängeschlosses zu erinnern. Vier Ziffern. 1683. Der Kampf um Wien. Das Jahr, in dem das ­Osmanische Reich die wichtigste Macht der Welt war, auf jeden Fall des Teils der Welt, der es wert war, beherrscht zu werden. Nach diesem Jahr konnte das Imperium sich nicht weiter vergrößern, und der Abstieg begann. Niederlage folgte auf Niederlage. Hatte er diese Zahlen ausgewählt, weil sie in gewisser Weise seine eigene Geschichte erzählten, wie es war, alles zu haben und alles wieder zu verlieren? Endlich bekam er den Schrank auf, nahm das Telefon heraus, tippte die Nummer und hielt es ans Ohr. Starrte auf die Tür zum Bad, die sich langsam schloss, und wartete beinahe darauf, dass der Mann in die Umkleide gestürmt kam und ihn angriff.

»Ja?«

»Er ist hier!«, flüsterte Mehmet.

»Sicher?«

»Ja, im Dampfbad.«

»Behalt ihn im Blick, wir sind in fünfzehn Minuten da.«

»Du hast was?«, fragte Bjørn Holm und ließ die Kupplung kommen, als die Ampel an der Hausmanns gate auf Grün schaltete.

»Ich habe einen zivilen Freiwilligen angeheuert, um das türkische Bad in Sagene zu überwachen«, sagte Harry und betrachtete über den Seitenspiegel Bjørn Holms legendären Volvo Amazon, Baujahr 1970, ursprünglich einmal weiß, später dann schwarz lackiert, mit einem karierten Rallyestreifen über Dach und Kofferraum. Die Wagen hinter ihnen verschwanden in einer schwarzen Abgaswolke.

»Ohne uns zu fragen?« Bjørn drückte auf die Hupe und fuhr rechts an einem Audi vorbei.

»Weil das nicht ganz nach Vorschrift ist, habe ich euch nicht in die Sache hineinziehen wollen.«

»Wenn du den Maridalsveien nimmst, hast du weniger Ampeln«, sagte Wyller von der Rückbank aus.

Bjørn schaltete runter und bog nach rechts ab. Harry spürte den Druck der alten Dreipunktgurte, die Volvo als erste Automarke serienmäßig eingebaut hatte. Damals noch ohne einen Aufrollmechanismus, so dass man sich darin kaum bewegen konnte.

»Wie geht’s, Smith?«, rief Harry durch den Motorlärm und sah in den Rückspiegel. Normalerweise nahm er Fachleute wie ihn nicht zu derart gefährlichen Einsätzen mit. In diesem Fall hatte er sich im letzten Moment doch anders entschieden, weil er nicht ausschließen konnte, dass es zu einer Geiselnahme kam oder sie das Gebäude würden umzingeln müssen. Dann konnten sie die Fähigkeiten des Psychologen gut brauchen, um Valentin Gjertsen richtig zu lesen. Wie er Aurora gelesen hatte. Und Harry.

»Ein bisschen schlecht ist mir schon, aber nur vom Fahren«, sagte Smith mit einem etwas blassen Lächeln. »Was ist das für ein Geruch?«

»Alte Kupplung, Heizung und Adrenalin«, sagte Bjørn.

»Hört mal«, sagte Harry. »Wir sind in zwei Minuten da, ich fasse noch mal kurz zusammen: Smith, du bleibst im Auto. Wyller und ich gehen durch den Haupteingang rein. Bjørn bewacht die Hintertür. Du weißt noch, wo die ist?«

»Klar«, sagte Bjørn. »Und dein Mann ist noch immer online?«

Harry nickte und hielt sich das Telefon ans Ohr. Sie fuhren vor einem älteren Backsteinbau vor. Harry hatte sich den Gebäudeplan angesehen und alles überprüft. Es handelte sich um eine alte Fabrik, die jetzt eine Druckerei beherbergte, ein paar Büros, ein Plattenstudio und das türkische Bad, das neben dem Haupteingang nur einen Hinterausgang besaß.

»Waffen geladen und entsichert?«, fragte Harry und atmete aus, als er den straffen Gurt gelöst hatte. »Wir brauchen ihn lebend. Aber wenn das nicht geht …« Er sah zu den opaken Fenstern neben dem Eingang, während er Bjørn leise aufsagen hörte: »Polizei, Warnschuss und dann … schießen. Polizei, Warnschuss und dann …«

»Los!«, sagte Harry.

Sie stiegen aus, gingen über den Bürgersteig und trennten sich vor dem Eingang.

Harry und Wyller liefen die drei Treppenstufen hoch und öffneten die schwere Tür. Innen roch es nach Salmiakseife und Druckerschwärze. Zwei der Türen trugen glänzende Messingschilder mit verzierten Buchstaben. Kleine, ambitionierte Anwaltskanzleien, die es sich noch nicht leisten konnten, Büros im Zentrum zu mieten. An der dritten Tür hing ein bescheidenes Schild, auf dem mit kleinen Buchstaben »Cagaloglu Hamam« stand. Man hatte den Eindruck, dass dieses Bad nur etwas für Eingeweihte war und bleiben sollte.

Harry öffnete die Tür und trat ein.

Er kam in einen Flur, an dessen Wänden die Farbe abblätterte. Ein breitschultriger Mann mit dunklen Bartstoppeln und Trainingsanzug saß an einem einfachen Tresen und las in einem Magazin. Hätte Harry es nicht besser gewusst, hätte er geglaubt, in einem Boxclub zu sein.

»Polizei«, sagte Wyller und hielt dem Mann seinen Ausweis vor die Nase. »Bleiben Sie still sitzen und schlagen Sie keinen Alarm. Das alles ist in zwei Minuten vorbei.«

Harry ging weiter über den Flur und sah zwei Türen. An der ­einen stand »Umkleide«, an der anderen »Hamam«. Er nahm die Tür zum Bad und hörte Wyller dicht hinter sich.

Drei kleinere Becken lagen hintereinander in einem schmalen, rechteckigen Raum. Rechter Hand befanden sich kleine Nischen mit Massagetischen. Linker Hand zwei Glastüren und eine ein­fache Holztür, die direkt in die Umkleide führte. Aus dem vordersten Becken sahen zwei Männer zu ihnen auf und musterten sie. Mehmet saß auf einem Hocker an der Wand und tat so, als schaute er etwas auf seinem Handy nach. Er kam rasch auf sie zu und zeigte auf eine der Glastüren, an der ein beschlagenes Plastikschild mit der Aufschrift »Hararet« hing.

»Ist er allein?«, fragte Harry leise, während er und Wyller ihre Glock 17 zückten. Im Becken hinter sich hörte er hektische Schwimm­bewegungen.

»Auf jeden Fall ist da keiner raus- oder reingegangen, seit ich angerufen habe«, flüsterte Mehmet.

Harry stellte sich an die Tür und versuchte hineinzusehen, aber da war nur undurchdringliches Weiß.

Er gab Wyller ein Zeichen, die Tür im Auge zu behalten. Dann holte er tief Luft, trat einen Schritt vor, blieb dann aber noch einmal stehen. Seine Schuhsohlen quietschten. Er durfte Valentins Misstrauen nicht dadurch wecken, dass er den Raum in Schuhen betrat. Harry zog mit der freien Hand Schuhe und Strümpfe aus, öffnete die Tür und ging hinein. Der Dampf wirbelte wie ein Brautschleier um ihn herum. Rakel. Harry hatte keine Ahnung, woher der Gedanke kam, er konnte ihn aber verdrängen. Im selben Moment sah er eine einzelne Person vor sich auf der Holzbank sitzen. Vorsichtig schloss er die Tür und war mit einem Mal wieder vollständig vom Dampf umgeben. Stille. Harry hielt den Atem an und lauschte dem anderen. Hatte sein Gegenüber erkennen können, dass er den Raum bekleidet und mit einer Pistole in der Hand betreten hatte? Hatte er Angst? Fürchtete er sich, wie Aurora sich gefürchtet hatte, als sie die Spitzen der Cowboystiefel vor der Toilettentür gesehen hatte?

Harry hob die Pistole an und ging langsam auf die Stelle zu, an der er die Gestalt gesehen hatte. Als er die Konturen eines sitzenden Mannes zu erkennen glaubte, drückte er den Abzug bis zum Druckpunkt durch.

»Polizei!«, sagte er mit heiserer Stimme. »Keine Bewegung, sonst schieße ich!« Ein neuer Gedanke wirbelte in diesem Moment durch sein Hirn. Eigentlich hätte er in dieser Situation »Sonst schießen wir« sagen müssen. Einfache Psychologie, um den Eindruck zu vermitteln, dass sie mehrere waren, so dass der Gesuchte gleich aufgab. Warum habe ich »ich« gesagt? Und jetzt, da das Hirn dieser ersten Frage nachging, ließ es auch all die anderen zu: Warum bin ich selbst hier und nicht das Delta-Team, das für derartige Einsätze extra ausgebildet ist? Warum habe ich Mehmet klammheimlich hier platziert und keinen der anderen informiert, bevor er angerufen hat?