Harry spürte den Druck des Abzugs am Zeigefinger. So leicht.
Zwei Männer in einem Raum, in dem niemand sonst sie sehen konnte.
Wer wollte widerlegen, dass Valentin Harry angegriffen hatte, so dass dieser zwangsläufig zur Waffe greifen musste, immerhin hatte Valentin bereits mehrere Menschen mit den bloßen Händen und einem Eisengebiss getötet.
»Vurma!«, sagte die Gestalt vor ihm und streckte die Arme in die Höhe.
Harry beugte sich vor.
Der magere Mann war nackt. Die Augen vor Schreck geweitet und die Brust mit grauen Haaren bedeckt. Nur mit grauen Haaren.
Kapitel 23
Dienstag, später Nachmittag
»Was? Verdammt!«, rief Katrine Bratt und schleuderte ihm den Lappen entgegen, den sie vom Schreibtisch genommen hatte. Er klatschte dicht über Harry, der sich auf dem Stuhl geduckt hatte, an die Wand. »Als hätten wir nicht schon genug Ärger, aber du musst dich ja auch noch der letzten Polizeivorschrift widersetzen, die wir hier im Land haben. Von den Gesetzen ganz zu schweigen. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«
Rakel, dachte Harry und kippte den Stuhl nach hinten, so dass die Lehne gegen die Wand stieß. Ich habe an Rakel gedacht. Und an Aurora.
»Was?«
»Ich dachte, dass wir vielleicht ein Menschenleben retten könnten, wenn wir diese Abkürzung nehmen und Valentin Gjertsen dadurch einen Tag früher kriegen.«
»Vergiss es, Harry! Du weißt doch ganz genau, dass das so nicht funktioniert. Wenn jeder so denken und handeln würde …«
»Du hast recht, ich weiß. Ich weiß aber auch, dass Valentin Gjertsen uns wirklich nur um ein Haar entwischt ist. Er hat Mehmet gesehen, ihn aus der Kneipe wiedererkannt, Lunte gerochen und sich durch die Hintertür rausgeschlichen, während Mehmet in der Umkleide war, um mich anzurufen. Und ich weiß, dass du mir längst verziehen und mich in höchsten Tönen für mein proaktives Vorgehen gelobt hättest, wäre es tatsächlich Valentin Gjertsen gewesen, der da im Dampfbad saß. Genau dafür habt ihr die Abteilung im Heizungsraum doch eingesetzt.«
»Arschloch!«, fauchte Katrine, und Harry sah, dass sie sich auf ihrem Schreibtisch nach etwas anderem umsah, das sie ihm an den Kopf werfen konnte. Zu seinem Glück kamen weder die Stiftebox noch der Stapel gerichtlicher Schreiben aus den USA, die Facebook-Freigabe betreffend, in Frage. »Ich habe dir keine Lizenz gegeben, damit du uns alle wie Cowboys aussehen lässt. Euer Anschlag auf das türkische Bad ist wirklich auf jeder Titelseite. Bewaffnet im Dampfbad, Zivilisten in der Schusslinie, Nackter Neunzigjähriger mit Waffe bedroht. Und keine Festnahme! Das ist einfach …«, sie hob die Hände und sah zur Decke, als wollte sie das Urteil höheren Mächten überlassen, »stümperhaft.«
»Bin ich gekündigt?«
»Willst du gekündigt werden?«
Harry sah Rakel vor sich. Schlafend, mit zuckenden Augenlidern, als sendete sie Morsesignale aus dem Lande Koma. »Ja«, sagte er. Und sah Aurora vor sich, Unruhe und Schmerz in den Augen, der Schaden, den sie genommen hatte, war nie wiedergutzumachen. »Und nein, willst du mir kündigen?«
Katrine stand stöhnend auf und trat ans Fenster. »Ja, ich will kündigen, aber nicht dir.«
»Hm.«
»Hm«, äffte sie ihn nach.
»Willst du mehr dazu sagen?«
»Ich will Truls Berntsen kündigen.«
»Versteht sich von selbst.«
»Ja, aber nicht, weil er unerträglich und faul ist. Er ist das Leck, er hat die Infos an die VG weitergegeben.«
»Und wie hast du das herausgefunden?«
»Anders Wyller hat ihm eine Falle gestellt. Er ist dafür ein bisschen weit gegangen, ich glaube, dass er mit Mona Daa noch irgendeine Rechnung offen hatte. Aber egal, sie wird uns keinen Ärger machen. Wenn sie wirklich einen Beamten für Informationen bezahlt und dadurch riskiert hat, dass er wegen Korruption angeklagt wird.«
»Und warum hast du Berntsen dann nicht längst gekündigt?«
»Rate mal!«, sagte sie und ging zurück zu ihrem Schreibtisch.
»Mikael Bellman?«
Katrine warf einen Bleistift, dieses Mal nicht in Harrys Richtung, sondern auf die geschlossene Tür. »Dieser Arsch ist da reingekommen, hat sich auf den Stuhl gesetzt, auf dem du jetzt sitzt, und gesagt, dass Berntsen ihn von seiner Unschuld überzeugt hat. Und dann hat er angedeutet, dass Wyller selbst die undichte Stelle sein könnte und die Schuld nur deshalb auf Berntsen geschoben hat. Dass wir das aber nicht weiterverfolgen, sondern uns auf die Jagd nach Valentin konzentrieren sollten, solange wir nichts beweisen könnten. Was sagst du dazu?«
»Nun. Vielleicht hat Bellman recht, vielleicht ist es richtig, mit dem Waschen schmutziger Wäsche zu warten, bis dieses Blutbad vorbei ist.«
Katrine schnitt eine Grimasse. »Bist du da selbst draufgekommen?«
Harry nahm das Zigarettenpäckchen aus der Hosentasche. »Apropos undichte Stelle. In den Zeitungen steht, dass ich in diesem Bad war, und das ist okay, ich wurde ja auch erkannt. Aber Mehmets Rolle in der ganzen Sache kennen nur wir im Heizungsraum und du. Zu seiner eigenen Sicherheit möchte ich, dass das so bleibt.«
Katrine nickte. »Ich habe das bereits mit Bellman besprochen, und er war einverstanden. Er meinte, wir könnten nur verlieren, wenn herauskäme, dass wir Zivilpersonen für die Polizeiarbeit einspannen. Und dass das alles dann wie eine Verzweiflungstat aussähe. Mehmets Rolle soll auf keinen Fall zur Sprache kommen, nicht einmal in der Ermittlergruppe, meiner Meinung nach, auch wenn Truls Berntsen nicht mehr daran teilnimmt.«
»Nicht?«
Katrine zog einen Mundwinkel hoch. »Er hat ein eigenes Büro bekommen, in dem er Berichte archivieren soll, die nichts mit den Vampiristenmorden zu tun haben.«
»Dann hast du ihn ja doch rausgeschmissen«, sagte Harry und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Das Telefon vibrierte an seinem Bein. Er holte es hervor. Es war eine SMS von Oberarzt Steffens.
Die Tests sind fertig, Rakel ist zurück in 301.
»Ich muss los.«
»Bist du noch dabei, Harry?«
»Lass mich darüber nachdenken.«
Vor dem Präsidium fand Harry das Feuerzeug, das durch ein Loch ins Futter seiner Jackentasche gerutscht war, und zündete die Zigarette an. Betrachtete die Menschen, die auf dem Bürgersteig an ihm vorbeigingen. Sie wirkten so entspannt, so unbesorgt. Das Ganze hatte etwas zutiefst Beunruhigendes. Wo war er? Wo zum Henker war Valentin?
»Hallo«, sagte Harry, als er den Raum 301 betrat.
Oleg saß neben Rakels Bett und sah wortlos von dem Buch auf, das er las.
Harry setzte sich. »Irgendetwas Neues?«
Oleg blätterte in seinem Buch.
»Hör mal«, sagte Harry, zog sich die Jacke aus und hängte sie über die Lehne seines Stuhls. »Ich weiß, dass du denkst, dass mir meine Arbeit wichtiger ist als Rakel. Dass ich deshalb weg war. Obwohl es andere gibt, die Mordfälle lösen können, sie aber nur dich und mich hat.«
»Stimmt das etwa nicht?«, fragte Oleg, ohne von seinem Buch aufzublicken.
»Im Moment braucht sie mich nicht, Oleg. Ich kann hier drinnen niemanden retten, während ich da draußen in der Tat Leben retten kann.«
Oleg klappte das Buch zu und sah zu Harry hinüber. »Gut zu hören, dass es Philanthropie ist, die dich antreibt. Man könnte sonst leicht glauben, dass es etwas ganz anderes ist.«