Harry erstarrte, die Hand auf der Klinke. »Wiederholen Sie das Letzte noch mal.«
Antonsen hielt sich das Handy vor die Nase und kniff die Augen zusammen. Er schien weitsichtig zu sein. »Barkee–«, begann er, als Harry ihm auch schon das Handy aus der Hand nahm.
Harrys Blick scannte das Display. »Verdammte Scheiße! Haben Sie ein Auto, Antonsen?«
»Nein, ich fahre Rad. Oslo ist ja nicht so groß, außerdem kann man sich so fit …«
Harry warf Antonsen das Handy in den Schoß und riss die Tür zu Zimmer 301 auf. Oleg hob den Blick. Als er sah, dass es Harry war, schaute er wieder auf sein Buch.
»Oleg. Du hast ein Auto, du musst mich nach Grünerløkka fahren. Jetzt!«
Oleg schnaubte, ohne aufzusehen. »Als ob.«
»Das war keine Frage, sondern ein Befehl. Komm!«
»Befehl?« Olegs Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. »Du bist nicht mal mein Vater. Wofür ich dankbar bin.«
»Du hattest recht. Es ist wirklich so, dass der Dienstgrad entscheidend ist. Me, Hauptkommissar, you, Polizeianwärter. Also hör auf mit dem Gejammer und setz deinen Arsch in Bewegung!«
Oleg glotzte ihn mit offenem Mund an.
Harry drehte sich um und stürmte über den Flur voraus.
Mehmet Kalak ließ Coldplay und U2 liegen und probierte stattdessen aus, wie Ian Hunter auf seine Kundschaft wirkte.
»All the Young Dudes« dröhnte aus den Lautsprechern.
»Und?«, fragte Mehmet.
»Nicht schlecht, aber die Version von David Bowie ist besser«, sagte die Kundschaft. Genauer gesagt, Øystein Eikeland, der sich auf die andere Seite des Tresens gesetzt hatte, nachdem sein Job beendet war. Da sie die Kneipe ganz für sich hatten, schob Mehmet den Lautstärkeregler hoch.
»Daran ändert sich auch nichts, wenn du den so laut singen lässt!«, rief Øystein und hob seinen Daiquiri an.
Es war sein fünfter. Da er sie selbst gemixt hatte und als Eignungsprüfung für seine Ausbildung zum Barkeeper verstand, betrachtete er die Unkosten als Werbekosten, die steuerlich absetzbar waren. Berücksichtigte man dann noch, dass er zum Selbstkostenpreis trank, die Werbekosten aber in voller Höhe absetzbar waren, machte Mehmet durch ihn eigentlich Gewinn.
»Ich sollte Schluss machen, dabei müsste ich im Grunde noch einen mixen, damit ich auch die Miete zahlen kann«, nuschelte er.
»Du bist als Gast besser«, sagte Mehmet. »Was nicht heißt, dass du hinterm Tresen als Barkeeper nichts getaugt hast. Du bist einfach nur der beste Gast, den ich …«
»Danke, lieber Mehmet, ich …«
»… muss jetzt nach Hause gehen.«
»Soll ich?«
»Ja, sollst du.« Um zu unterstreichen, dass er es wirklich so meinte, schaltete Mehmet die Musik aus.
Øystein drehte den Kopf und öffnete den Mund, als hoffte er, dass das, was er auf dem Herzen hatte, von ganz allein über seine Lippen kam. Aber es kam nichts. Er versuchte es noch einmal, schloss den Mund wieder und nickte nur. Schließlich knöpfte er sich die Taxijacke zu, rutschte vom Barhocker und ging auf unsicheren Beinen zur Tür.
»Kein Trinkgeld?«, rief Mehmet ihm lachend nach.
»Trinkgeld is nicht abzugsfä…, abgezugsfä…, ach, vergiss es.«
Mehmet nahm Øysteins Glas und wusch es mit ein wenig Spülmittel unter dem Wasserhahn aus. Für die paar Gäste, die am Abend in der Kneipe gewesen waren, lohnte es sich nicht, die Spülmaschine anzuschmeißen.
Das Telefon, das auf dem Tresen lag, leuchtete auf. Es war Harry. Während er sich die Hände abtrocknete, um das Handy zu nehmen, wurde ihm bewusst, dass mit der Zeit etwas nicht stimmen konnte. Der Zeit, bis die Tür hinter Øystein ins Schloss gefallen war. Die Sekunden waren länger als sonst gewesen. Jemand musste die Tür für einen Moment festgehalten haben. Er hob den Blick.
»Ruhiger Abend?«, fragte der Mann, der vor dem Tresen stand.
Mehmet versuchte, Luft zu holen, um eine Antwort geben zu können, aber es gelang ihm nicht. »Ruhig ist gut«, sagte Valentin Gjertsen. Der Mann aus dem Dampfbad.
Mehmet streckte stumm seine Hand nach dem Telefon aus.
»Wenn Sie so gut wären, das Handy nicht in die Hand zu nehmen, tue ich Ihnen auch einen Gefallen.«
Mehmet hätte das Angebot sicher nicht angenommen, wäre da nicht der große Revolver auf ihn gerichtet gewesen.
»Danke, Sie werden es nicht bereuen.« Der Mann drehte sich um. »Schade, dass Sie keine Gäste haben. Für Sie, meine ich. Mir passt das ganz gut, so habe ich Ihre volle Aufmerksamkeit. Na ja, wahrscheinlich hätte ich die auch sonst, Sie sind doch sicher gespannt, was ich will. Ob ich gekommen bin, um etwas zu trinken oder Sie umzubringen. Nicht wahr?«
Mehmet nickte langsam.
»Letzteres wäre ja ein naheliegender Gedanke, da Sie die einzige lebende Person sind, die mich identifizieren kann. Das ist wirklich so, wussten Sie das? Obwohl der plastische Chirurg, der … na ja, genug davon. Egal, da Sie das Telefonat nicht angenommen haben und Sie mich der Polizei eigentlich ja nur aus Bürgerpflicht gemeldet haben, will ich Ihnen den versprochenen Gefallen auch tun. Können Sie mir folgen?«
Mehmet nickte wieder und versuchte, den unausweichlichen Gedanken, dass er sterben musste, zu verdrängen. Sein Hirn suchte krampfhaft nach anderen Möglichkeiten, kam aber immer wieder zu demselben Schluss. Er musste sterben. Wie eine Antwort auf seine Gedanken, hörte er plötzlich ein lautes Klopfen am Fenster neben der Eingangstür. Mehmet sah an Valentin vorbei. Ein paar Hände und ein bekanntes Gesicht drückten sich ans Glas, um in die Kneipe zu schauen. Komm rein, verdammt, komm rein!
»Sie rühren sich nicht vom Fleck«, sagte Valentin leise, ohne sich umzudrehen. Sein Körper verdeckte den Revolver für die Person am Fenster.
Warum zum Henker kam er nicht rein?
Die Antwort kam in der nächsten Sekunde, als es laut an der Tür klopfte.
Valentin hatte abgeschlossen.
Das Gesicht war gleich darauf wieder am Fenster, und Mehmet sah den Mann mit den Armen rudern, um Aufmerksamkeit zu erregen. Vermutlich hatte er sie noch nicht gesehen.
»Sie rühren sich nicht vom Fleck, geben ihm aber ein Zeichen, dass geschlossen ist«, sagte Valentin. In seiner Stimme war nicht einmal ein Anflug von Stress zu hören.
Mehmet stand einfach nur mit hängenden Armen da.
»Jetzt, sonst sterben Sie.«
»Das tue ich so doch auch.«
»Das können Sie nicht mit hundertprozentiger Sicherheit wissen. Aber wenn Sie nicht tun, was ich sage, verspreche ich Ihnen, Sie zu töten. Und dann auch noch die Person da draußen. Sehen Sie mich an. Ich halte meine Versprechen.«
Mehmet sah zu Valentin, schluckte und beugte sich etwas zur Seite, so dass sein Oberkörper ins Licht ragte. Als der Mann vor dem Fenster ihn sah, schüttelte Mehmet den Kopf.
Nach ein paar Sekunden kam von draußen irgendein vages Zeichen, dann war Geir Sølle weg.
Valentin beobachtete alles im Spiegel.
»So«, sagte er. »Wo waren wir? Ja, bei der guten und der schlechten Nachricht. Die schlechte ist, dass der naheliegende Gedanke, dass ich gekommen bin, um Ihnen das Leben zu nehmen, so naheliegend ist, dass er … tatsächlich der Wahrheit entspricht. Das ist – mit anderen Worten – an die hundert Prozent sicher. Ich werde Sie töten.« Valentin sah Mehmet voller Bedauern an, ehe er zu lachen begann. »Sie machen das längste Gesicht, das ich je gesehen habe! Ich kann das ja nachvollziehen, aber vergessen Sie nicht die gute Nachricht. Den Gefallen. Ich lasse Ihnen nämlich die Wahl, wie Sie sterben wollen. Folgende Alternativen stehen zur Auswahl, okay? Sind Sie bei der Sache? Gut. Also, ich kann Ihnen entweder in den Kopf schießen oder dieses Röhrchen in den Hals stechen.« Valentin hielt etwas hoch, das wie ein metallener, am Ende messerscharf zugeschnittener Strohhalm aussah.
Mehmet starrte Valentin nur an. Das Ganze war so absurd, dass er sich zu fragen begann, ob das alles nur ein Traum war, aus dem er bald aufwachen würde. Oder war das der Traum des Mannes vor ihm? Doch dann streckte dieser Valentin ihm das Röhrchen entgegen, und Mehmet wich automatisch einen Schritt zurück und hatte plötzlich das Waschbecken im Rücken.