Valentin schmatzte mit den Lippen. »Also nicht das Röhrchen?«
Das Licht brach sich auf dem Metall des Röhrchens, Mehmet nickte vorsichtig. Stiche waren immer seine größte Angst gewesen. Etwas durch die Haut in den Körper gestochen zu bekommen. Als Junge war er sogar einmal von zu Hause weggelaufen und hatte sich im Wald versteckt, als er geimpft werden sollte.
»Abgemacht ist abgemacht, also nicht das Röhrchen.« Valentin legte es auf den Tresen und nahm ein paar schwarze, antik aussehende Handschellen aus seiner Tasche, ohne dass sich der Lauf der Waffe auch nur einen Millimeter von Mehmet entfernte. »Legen Sie die Kette um die Stange am Spiegelregal, ketten Sie Ihre Handgelenke an und legen Sie den Kopf ins Waschbecken.«
»Ich …«
Mehmet sah den Schlag nicht kommen. Er registrierte lediglich das Knacken in seinem Schädel, die plötzliche Dunkelheit und dass er etwas ganz anderes sah, als er die Augen wieder öffnete. Er musste mit dem Revolver niedergeschlagen worden sein, dachte er, und was er jetzt an seiner Schläfe spürte, konnte nur die Mündung der Waffe sein.
»Das Röhrchen«, flüsterte eine Stimme an seinem Ohr. »Ihre Entscheidung.«
Mehmet nahm die merkwürdigen, schweren Handschellen, legte die Kette um die Metallstange vor dem Regal und kettete seine Handgelenke an. Etwas Warmes lief ihm über den Nasenrücken und die Oberlippe, und er schmeckte den süßen metallischen Geschmack von Blut.
»Lecker?«, fragte Valentin mit heller Stimme.
Mehmet sah nach oben und begegnete Valentins Blick im Spiegel.
»Ich mag das ja selber eigentlich gar nicht«, sagte Valentin lächelnd. »Das schmeckt doch nur nach Eisen und Prügel. Ja, Eisen und Prügel. Eigenes Blut, das geht ja noch, aber das anderer? Da schmeckt man sogar, was die gegessen haben. Apropos gegessen, hat der zum Tode Verurteilte einen letzten Wunsch? Ich frage nicht, weil ich dir noch was kochen will, bloß aus Neugier.«
Mehmet blinzelte. Ein letzter Wunsch? Die Worte wollten nicht bis zu ihm vordringen, und trotzdem folgten die Gedanken der Frage wie im Traum. Er wünschte sich, dass die Jealousy Bar eines Tages Oslos coolste Kneipe war, dass Bes¸iktas¸ Meister wurde und er zu »Ready for Love« von Paul Rodgers beerdigt wurde. Sonst noch was? Er strengte sich wirklich an, es kam ihm aber nichts mehr in den Sinn. Stattdessen spürte er, dass sich in seinem Inneren ein falsches Lachen aufbaute.
Harry sah eine Gestalt aus der Jealousy Bar hasten, als er sich näherte. Licht fiel noch durch das große Fenster auf den Bürgersteig, Musik war jedoch keine mehr zu hören. Er trat ans Fenster und sah hinein. Erblickte den Rücken einer Person hinter dem Tresen, konnte aber nicht erkennen, ob es Mehmet war. Ansonsten schien die Kneipe leer zu sein. Harry ging zur Tür und drückte die Klinke vorsichtig hinunter. Geschlossen. Eigentlich sollte doch bis Mitternacht geöffnet sein.
Harry nahm den Schlüsselbund mit dem gebrochenen Plastikherzen und steckte den Schlüssel vorsichtig ins Schloss. Zog seine Glock 17 mit der rechten Hand, während er mit der linken den Schlüssel herumdrehte und die Tür öffnete. Mit gezückter Waffe trat er ein und schob die Tür leise mit dem Fuß zu. Trotzdem drangen von der Straße Geräusche herein, so dass die Gestalt hinter dem Tresen sich aufrichtete und in den Spiegel sah.
»Polizei«, sagte Harry. »Keine Bewegung!«
»Harry Hole.« Die Gestalt trug eine Schirmmütze, so dass Harry keine Gesichtszüge erkennen konnte. Aber er brauchte kein Gesicht, denn obwohl es mehr als drei Jahre her war, dass er die helle Stimme gehört hatte, kam es ihm wie gestern vor.
»Valentin Gjertsen«, sagte Harry und hörte das Zittern in seiner eigenen Stimme.
»Endlich treffen wir uns wieder, Harry. Ich habe an dich gedacht. Hast du auch an mich gedacht?«
»Wo ist Mehmet?«
»Du bist guter Dinge, du hast an mich gedacht.« Das hohe Lachen. »Warum? Wegen all meiner Verdienste? Oder wegen der Opfer, wie ihr das nennt? Nein, warte. Nein, eher wegen deiner Verdienste. Schließlich bin ich der, den du nie gekriegt hast, nicht wahr?«
Harry antwortete nicht. Er blieb an der Tür stehen.
»Es ist nicht auszuhalten, nicht wahr? Gut! Und deshalb bist du so gut, Harry. Du bist so wie ich, du hältst es nicht aus.«
»Ich bin nicht wie Sie, Valentin.« Harry lockerte die Finger, legte sie erneut um den Schaft der Waffe und fragte sich, was ihn abhielt, näher zu treten.
»Nicht? Rücksicht auf andere Menschen hält dich nicht ab, zu tun, was du tun willst, oder? Du hast the eyes on the prize, Harry. Guck dich doch mal an. Du willst nur deine Trophäen, koste es, was es wolle. Die Leben der anderen, dein Leben, wenn du ehrlich bist, ist das alles für dich doch nur zweitrangig. Du und ich, wir sollten uns mal zusammensetzen und uns besser kennenlernen. Denn es gibt nicht so viele wie uns.«
»Halten Sie Ihren Mund, Valentin! Nehmen Sie die Hände hoch, damit ich Sie sehen kann, und sagen Sie mir, wo Mehmet ist.«
»Wenn Mehmet der Name deines Spions ist, dann muss ich mich bewegen, um ihn dir zeigen zu können. Dann wird auch die Situation klarer, in der wir uns hier befinden.«
Valentin Gjertsen trat einen Schritt zur Seite. Mehmet hing mit den Armen an der Metallstange des Regals. Sein Kopf war nach unten ins Waschbecken gebeugt, so dass die langen schwarzen Locken sein Gesicht verdeckten. Valentin hielt einen Revolver mit langem Lauf an Mehmets Hinterkopf.
»Bleib stehen, wo du bist, Harry. Wir haben hier, wie du siehst, eine ziemlich ausgeglichene Balance des Schreckens. Von da, wo du stehst, sind es bis hier vielleicht acht oder zehn Meter? Die Chancen, dass dein erster Schuss mich gleich außer Gefecht setzt, so dass ich Mehmet nicht mehr töten kann, sind ziemlich gering, oder was meinst du? Erschieße ich Mehmet zuerst, kannst du bestimmt zweimal auf mich schießen, bevor ich die Waffe auf dich richten kann. Dann stehen die Chancen für mich ziemlich schlecht. Wir haben es mit anderen Worten mit einer Lose-lose-Situation zu tun, die Frage lautet also, ob du bereit bist, deinen Spion zu opfern, um mich zu bekommen? Oder wir retten ihn, und du fängst mich später? Was meinst du?«
Harry zielte über das Korn seiner Waffe auf Valentin. Er hatte recht. Es war zu dunkel und die Distanz zu groß, um ihn sicher mit einem Kopfschuss zu treffen.
»Ich deute dein Schweigen als Einverständnis, Harry. Und da ich in der Ferne auch schon Martinshörner zu hören glaube, gehe ich davon aus, dass wir wenig Zeit haben.«
Harry hatte sie gebeten, ohne Sirenen zu kommen, aber dann wären sie länger unterwegs gewesen.
»Wenn du deine Pistole weglegst, Harry, verschwinde ich.«
Harry schüttelte den Kopf. »Du bist hier, weil er dein Gesicht gesehen hat, du wirst also erst ihn und dann mich erschießen, weil sonst auch ich dein Gesicht sehe.«
»Dann mach in den nächsten fünf Sekunden einen Vorschlag, sonst erschieße ich ihn und setze darauf, dass dein erster Schuss danebengeht, bevor ich dich treffe.«
»Behalten wir die Balance des Schreckens bei«, sagte Harry. »Aber rüsten wir ab.«
»Du willst doch nur Zeit gewinnen, denk dran, der Countdown läuft. Vier, drei …«
»Wir drehen unsere Waffen gleichzeitig um und halten sie mit der rechten Hand am Lauf, so dass Schaft und Abzug zu sehen sind.«
»Zwei …«
»Sie gehen an der Wand entlang zum Ausgang, während ich auf der anderen Seite des Raumes an den Nischen entlang in Richtung Tresen gehe.«
»Eins …«
»Der Abstand zwischen uns wird so in etwa gleich groß bleiben, und keiner von uns kann schießen, ohne dass der andere reagieren kann.«
Es war still in der Bar. Die Sirenen kamen deutlich vernehmbar immer näher. Und wenn Oleg das tat, um was er ihn gebeten hatte, Korrektur, was er ihm befohlen hatte, saß er weiterhin zwei Straßen entfernt im Auto und rührte sich nicht vom Fleck.