Das Licht wurde schlagartig dunkler, und Harry wurde klar, dass Valentin den Dimmer hinter der Bar betätigt hatte. Als er sich zum ersten Mal zu Harry umdrehte, war es so dunkel, dass Harry das Gesicht unter der Schirmmütze erneut nicht erkennen konnte.
»Wir drehen die Revolver bei drei«, sagte Valentin und streckte die Hände nach vorne aus.
»Eins, zwei … drei.«
Harry nahm den Schaft mit der linken Hand, legte die Finger der rechten um den Lauf und hob die Waffe in die Höhe. Sah Valentin dasselbe tun. Der charakteristische rotbraune Schaft der Ruger Redhawk sah wie eine kleine Flagge aus, die er am Nationalfeiertag schwenkte.
»Siehst du«, sagte Valentin. »So was schaffen nur zwei Männer, die sich wirklich verstehen. Ich mag dich, Harry. Ich mag dich wirklich. Und jetzt gehen wir los …«
Valentin ging an der Wand entlang, während Harry in Richtung der Nischen ging. Es war so still, dass Harry das Knirschen von Valentins Stiefeln hörte, als sie sich langsam mit größtmöglichem Abstand aneinander vorbeischoben. Wie zwei Gladiatoren, die genau wussten, dass der erste Ausfall den Tod bedeutete, mindestens für einen von ihnen. Harry erkannte, dass er den Tresen erreicht hatte, als er das tiefe Brummen des Kühlschranks hörte, das gleichmäßige Tropfen des Wasserhahns und das insektenartige Surren des Verstärkers. Er tastete sich im Dunkel weiter, ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen, die sich jetzt vor den Fenstern abzeichnete. Als er hinter dem Tresen war, hörte er wieder die Geräusche der Straße, die durch die sich langsam öffnende Tür hereindrangen, gefolgt von sich rasch entfernenden Schritten.
Er nahm das Handy aus der Tasche und legte es ans Ohr.
»Hast du gehört?«
»Ja, alles«, antwortete Oleg. »Ich sage den Streifenwagen Bescheid, Beschreibung?«
»Kurze schwarze Jacke, dunkle Hose, Schirmmütze ohne Logo, aber die hat er bestimmt längst weggeworfen. Das Gesicht habe ich nicht gesehen. Er ist Richtung Thorvald Meyers gate gelaufen, also …«
»Dahin, wo am meisten los ist. Ich geb’s durch.«
Harry steckte das Handy in die Tasche und legte Mehmet die Hand auf die Schulter. Keine Reaktion.
»Mehmet …?«
Mit einem Mal waren da weder der Kühlschrank noch der Verstärker zu hören, nur das gleichmäßige Tropfen. Dann schaltete er das Licht ein. Legte die Hand in Mehmets Locken und hob seinen Kopf vorsichtig aus dem Waschbecken. Das Gesicht war blass. Zu blass.
Etwas ragte aus seinem Hals.
Es sah aus wie ein Strohhalm aus Metall.
Aus der Spitze tropfte es rot in das Waschbecken, dessen Ablauf von all dem Blut bereits verstopft war.
Kapitel 25
Dienstagnacht
Katrine Bratt sprang aus dem Auto, lief zu der Absperrung vor der Jealousy Bar und bemerkte den Mann, der rauchend an einem der Streifenwagen lehnte. Das Blaulicht fiel in regelmäßigen Abständen auf das gleichermaßen abschreckende wie anziehende Gesicht. Ein Schauer lief Katrine über den Rücken, als sie zu ihm ging.
»Es ist kalt«, sagte sie.
»Der Winter naht«, sagte Harry und blies den Zigarettenrauch nach oben, so dass er im Blaulicht leuchtete.
»Das ist Emilia.«
»Hm, die hatte ich ganz vergessen.«
»Morgen soll die hier in Oslo sein.«
»Hm.«
Katrine musterte ihn. Sie hatte gedacht, bereits alle nur erdenklichen Varianten von Harry Hole gesehen zu haben. Aber diese kannte sie nicht. So leer, so kaputt, so resigniert. Am liebsten hätte sie ihm die Wange gestreichelt und ihre Arme um ihn gelegt. Doch sie konnte nicht. Und dafür gab es so viele Gründe.
»Was ist drinnen passiert?«
»Valentin hatte eine Ruger Redhawk und hat mich glauben lassen, dass ich um ein Menschenleben verhandele. Aber Mehmet war bereits tot, als ich zur Tür hereinkam. Er hat ihm ein Metallrohr in die Halsschlagader gestochen und ihn ausbluten lassen wie einen scheiß Fisch. Nur weil er … weil ich …« Harry begann zu blinzeln und sprach nicht weiter, scheinbar, um einen Tabakfaden von der Zunge zu nehmen.
Katrine wusste nicht, was sie sagen sollte, und sagte nichts. Stattdessen fiel ihr Blick auf den wohlbekannten schwarzlackierten Volvo Amazon mit dem Rallyestreifen, der auf der anderen Straßenseite parkte. Bjørn stieg aus. Katrine spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog, als diese Lien auf der Beifahrerseite ausstieg. Was machte Bjørns Chefin hier? An einem Tatort? Hatte Bjørn ihr ein romantisches Stelldichein an einem Mordschauplatz mit all seinen Sehenswürdigkeiten versprochen? Zum Teufel! Bjørn hatte sie bemerkt. Sie kamen auf sie zu.
»Ich gehe rein, wir reden später«, sagte sie, schlüpfte unter der Absperrung hindurch und ging schnell zur Tür unter dem Schild mit dem gebrochenen Plastikherzen.
»Da bist du«, sagte Bjørn. »Ich habe dich heute Abend zu erreichen versucht.«
»Ich war«, Harry nahm einen Zug von seiner Zigarette, »ein bisschen beschäftigt.«
»Das ist Berna Lien, die neue Chefin der Kriminaltechnik. Berna, Harry Hole.«
»Ich habe schon viel von Ihnen gehört«, sagte die Frau mit einem Lächeln.
»Und ich von Ihnen nichts«, sagte Harry. »Sind Sie gut?«
Sie sah sichtlich verunsichert zu Bjørn. »Gut?«
»Valentin Gjertsen ist gut«, sagte Harry. »Und ich bin nicht gut genug und hoffe deshalb, dass andere auf unserer Seite besser sind, sonst geht dieses Blutbad immer weiter.«
»Ich habe vielleicht etwas«, sagte Bjørn.
»Lass hören.«
»Deshalb habe ich dich zu erreichen versucht. Der Mantel von Valentin. Beim Aufschneiden habe ich wirklich ein paar Dinge im Futter gefunden. Eine Zehn-Øre-Münze und zwei Zettel. Da der Mantel in der Waschmaschine gewaschen wurde, war darauf keine Druckerschwärze mehr zu erkennen, einer der Zettel war aber gefaltet, und darauf war noch was zu lesen. Nicht viel, aber es war zu erkennen, dass es sich um eine Quittung von einem bestimmten DNB-Bankautomaten in der Oslo City am Hauptbahnhof handelt. Das würde dazu passen, dass er nie die Kreditkarte benutzt, sondern immer alles bar bezahlt. Leider können wir weder die Kontonummer noch die Bankleitzahl oder die Uhrzeit erkennen, aber Teile des Datums sind lesbar.«
»Viel?«
»Genug, um zu wissen, dass es dieses Jahr war, im August, außerdem haben wir Teile der letzten Ziffer für den Tag. Dabei kann es sich nur um eine Eins handeln.«
»Also 1, 11, 21, oder 31?«
»Vier mögliche Tage … Ich habe eine Frau bei Nokas erreicht, die sich um die Bankautomaten der DNB-Bank kümmert. Sie hat mir erklärt, dass die Daten der Überwachungskameras drei Monate gespeichert werden, diese Aufnahmen existieren also noch. Die Automaten am Hauptbahnhof gehören zu den meistbenutzten in ganz Norwegen. Offiziell wegen all der Läden ringsherum.«
»Aber?«
»Heute akzeptiert doch jeder Karten. Außer …?«
»Hm, die Drogendealer am Bahnhof und entlang des Flusses.«
»An den beliebtesten Automaten sind das mehr als zweihundert Transaktionen pro Tag«, sagte Bjørn.
»Vier Tage, also insgesamt knapp tausend«, sagte Berna Lien, die ganz bei der Sache war. Harry trat die qualmende Zigarette aus.
»Morgen früh bekommen wir die Filme, und mit effektivem Spulen und ein paar Pausen können wir pro Minute bestimmt zwei verschiedene Gesichter überprüfen. Das macht dann sieben, acht Stunden, vielleicht weniger. Wenn wir Valentin identifizieren können, müssen wir nur noch den Zeitpunkt auf dem Film mit der dazu registrierten Auszahlung abgleichen.«
»Und schwupps, haben wir Valentin Gjertsens neue Identität«, unterbrach sie Berna Lien, die stolz auf ihre Abteilung zu sein schien. »Was meinen Sie, Hole?«
»Ich meine, Frau Lien, dass es schade ist, dass derjenige, der Valentin hätte identifizieren können, da drinnen liegt, mit dem Kopf im Waschbecken und ohne Puls.« Harry knöpfte seinen Mantel zu. »Aber danke fürs Kommen.«