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Harry wurde bewusst, dass Steffens recht hatte: Er atmete nicht.

Harry legte auf und starrte auf das Telefon. Sie wacht nicht auf. Natürlich nicht, sie will nicht, wer will denn schon aufwachen? Er stand auf und ging nach unten. Knallte die Schranktüren in der Küche zu. Nichts. Leer. Geleert. Dann rief er sich ein Taxi und ging nach oben, um sich anzuziehen.

Er sah das blaue Schild, las den Namen und bremste. Nahm den Abzweig und schaltete den Motor aus. Sah sich um. Wald und Weg. Der Ort erinnerte ihn an die nichtssagenden, monotonen Straßen in Finnland, auf denen man irgendwann das Gefühl bekam, durch eine Wüste aus Wald zu fahren. Wo die Bäume wie eine schweigende Wand auf jeder Seite der Straße standen und Leichen ebenso leicht zu verstecken waren, als würde man sie im Meer versenken. Er wartete, bis ein Wagen vorbeigefahren war. Warf einen Blick in den Rückspiegel. Keine Lichter, weder vor noch hinter ihm. Dann machte er die Tür auf, trat auf die schmale Landstraße, ging um das Auto herum und öffnete den Kofferraum. Sie war so blass, dass sogar die Sommersprossen verblichen waren. Die Augen über dem Knebel groß, angsterfüllt und schwarz. Er hob sie aus dem Kofferraum und half ihr auf die Beine, hielt sie fest, damit sie nicht umfiel. Dann nahm er sie an den Handschellen und führte sie über die Straße und den Graben in den Wald hinein. Schaltete die Taschenlampe ein. Sie zitterte so stark, dass die Handschellen rasselten.

»Immer mit der Ruhe, ich tue dir ja nichts, meine Liebe«, sagte er. Und meinte das wirklich so. Er wollte ihr nicht weh tun. Nicht mehr. Und vielleicht wusste sie das ja, vielleicht hatte sie erkannt, dass er sie liebte, und zitterte nur, weil sie in der Unter­wäsche und dem Negligé seiner japanischen Freundin fror.

Als sie in das Unterholz traten, war es, wie in ein Haus zu kommen. Es senkte sich eine ganz andere Stille über sie, und mit ­einem Mal waren auch andere Geräusche zu hören. Leisere, aber deutlichere, nicht identifizierbare Laute. Ein Knacken, ein Seufzen, ein Schrei. Der Waldboden war weich, ein Teppich aus Nadeln, der unter ihren lautlosen Schritten nachgab. Wie in einem Traum von einem Brautpaar auf dem Weg in die Kirche.

Als er bis hundert gezählt hatte, blieb er stehen, sah sich im Licht der Taschenlampe um und fand, wonach er suchte. Ein verkohlter, großer Baum, den ein Blitz gespalten hatte.

Er zog sie bis dahin hinter sich her. Sie leistete keinen Widerstand, als er die Handschellen öffnete, ihre Arme um den Baumstamm legte und sie ankettete. Wie ein Lamm, dachte er, als er sie, die Arme um den Stamm geschlungen, auf den Knien vor dem Baum sitzen sah. Ein Opferlamm. Denn er war nicht der Bräutigam, er war der Vater, der sein Kind zum Altar führte.

Er streichelte ihr ein letztes Mal über die Wange und drehte sich um, um zurückzugehen, als zwischen den Bäumen eine Stimme ertönte.

»Sie ist am Leben, Valentin?«

Er blieb stehen, und das Licht seiner Taschenlampe zuckte wie automatisch in Richtung des Geräuschs.

»Weg mit der Lampe«, sagte die Stimme im Dunkel.

Valentin tat, was die Stimme verlangte. »Sie wollte leben.«

»Und der Barkeeper wollte das nicht?«

»Er konnte mich identifizieren, das Risiko wollte ich nicht eingehen.«

Valentin lauschte, hörte aber nur das leise Zischen von Marte, wenn sie durch die Nase einatmete.

»Ich räume nur dieses eine Mal hinter dir auf«, sagte die Stimme. »Hast du den Revolver mitgebracht, den du bekommen hast?«

»Ja«, sagte Valentin. Kam ihm die Stimme des anderen nicht ­irgendwie bekannt vor?

»Leg ihn neben sie und geh. Du kriegst ihn bald zurück.«

Ein Gedanke schoss durch Valentins Kopf. Er könnte den Revolver ziehen und den anderen erschießen. Die Vernunft töten, alle Spuren verwischen, die zu ihm führten, und die Dämonen wieder an die Macht lassen. Das Gegenargument lautete, dass Valentin die Vernunft noch brauchen konnte.

»Wann und wie?«, rief Valentin. »Den Umkleideschrank im Bad können wir nicht mehr nutzen.«

»Morgen. Ich sage dir Bescheid. Da du jetzt ohnehin meine Stimme gehört hast, kann ich dich auch anrufen.«

Valentin nahm den Revolver aus dem Holster, legte ihn vor Marte auf den Boden und warf einen letzten Blick auf sie. Dann ging er.

Als er sich in den Wagen setzte, schlug er zweimal hart mit der Stirn auf das Lenkrad, bevor er den Motor anließ. Er setzte den Blinker, obwohl kein anderes Auto zu sehen war, und fuhr ruhig davon.

»Halten Sie hier an«, sagte Harry zu dem Taxifahrer und streckte den Arm aus.

»Es ist drei Uhr nachts, Mann, die Kneipe ist längst dicht, das sieht man doch!«

»Es ist meine.«

Harry bezahlte und stieg aus. Wo noch vor wenigen Stunden hektische Betriebsamkeit geherrscht hatte, war es jetzt wie ausgestorben. Die Spurensicherung war fertig, die Tür war aber noch versiegelt. Auf dem Klebestreifen war der Reichslöwe zu erkennen, dazu der Text »Polizeisiegel, Entfernen gemäß Paragraph 343 Strafgesetzbuch verboten«.

Harry steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Das Siegel brach mit einem Ächzen auf, als er die Tür öffnete und die Kneipe betrat.

Die Lampen unter dem Spiegelregal brannten noch. Harry kniff ein Auge zu und richtete seinen Finger auf das Flaschen­regal. Neun Meter. Was wäre passiert, hätte er abgedrückt? Wie wäre die Geschichte dann ausgegangen? Schwer zu sagen. Sie war so, wie sie war. Daran war nichts zu ändern. Man konnte nur versuchen, sie zu vergessen, klar.

Seine Finger fanden die Jim-Beam-Flasche, die inzwischen in einem Halter mit Dosierer steckte. In der von unten kommenden Puffbeleuchtung funkelte der Inhalt in der Flasche wie Gold. Harry ging hinter den Tresen, nahm ein Glas und hielt es unter den Dosierer. Füllte es bis zum Rand. Warum sich selbst betrügen?

Er spürte, wie die Muskeln sich in seinem ganzen Körper anspannten. Musste er jetzt schon vor dem ersten Schluck kotzen? Aber es gelang ihm, Mageninhalt und Alkohol bis zum dritten Schluck bei sich zu behalten. Als er sich über das Waschbecken beugte und der gelbgrüne Auswurf auf das Metall klatschte, sah er, dass der Boden noch voller angetrocknetem Blut war.

Kapitel 27

Mittwochmorgen

Es war fünf vor acht, und im Heizungsraum gurgelte die Kaffeemaschine an diesem Morgen schon zum zweiten Mal.

»Wo bleibt eigentlich Harry?«, fragte Wyller und sah noch einmal auf die Uhr.

»Keine Ahnung«, erwiderte Bjørn Holm. »Wir sollten ohne ihn anfangen.«

Smith und Wyller nickten.

»Okay«, sagte Bjørn. »In diesem Moment sitzt Aurora Aune in der Nokaszentrale und sieht sich gemeinsam mit ihrem Vater, einer Mitarbeiterin der Bank und einem Spezialisten für Überwachungsvideos vom Raubdezernat die Aufnahmen der Kamera des Geldautomaten an. Läuft alles nach Plan, sind sie mit den Mitschnitten aus den vier Tagen in maximal acht Stunden durch. Vor­ausgesetzt, dass die Quittung, die wir gefunden haben, tatsächlich von einer Abhebung stammt, die Valentin selbst gemacht hat, sollten wir also, bei durchschnittlichem Glück, in etwa vier Stunden seine neue Identität haben. Spätestens heute Abend.«

»Das ist ja phantastisch!«, platzte Smith heraus. »Äh … ist das wirklich sicher?«

»Schon, aber freuen wir uns nicht zu früh«, sagte Bjørn. »Anders, du hast mit Katrine gesprochen?«

»Ja, und wir haben die Vollmacht, das Delta-Team zu nutzen. Die sind einsatzbereit.«

»Das sind die mit den automatischen Waffen und Gasmasken und … ähm, so weiter?«

»Langsam kennst du dich richtig gut aus, Smith«, sagte Bjørn lächelnd und sah Wyller wieder auf die Uhr schauen. »Machst du dir Sorgen, Anders?«

»Vielleicht sollten wir Harry mal anrufen?«

»Tu das.«

Es war neun, und Katrine hatte gerade die Ermittlergruppe aus dem Besprechungsraum entlassen. Sie sammelte ihre Papiere ein, als sie den Mann bemerkte, der in der Tür stand.