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»Nun, Smith?«, sagte sie. »Ein spannender Tag, oder? Was macht ihr unten?«

»Wir versuchen, Harry zu erreichen.«

»Ist er nicht aufgetaucht?«

»Und ans Telefon geht er auch nicht.«

»Er ist bestimmt im Krankenhaus, die Handys müssen da ja ausgeschaltet sein. Angeblich beeinflussen sie die Maschinen und technischen Geräte, aber das ist bestimmt genauso ein Blödsinn wie, dass eingeschaltete Handys an Bord die Naviga­tionssysteme von Flugzeugen beeinträchtigen.«

Sie bemerkte, dass Smith nicht zuhörte, sondern an ihr vorbeistarrte.

Sie drehte sich um und sah, dass das Foto von dem angeschlossenen Computer noch immer auf die Leinwand projiziert wurde. Es war eine Aufnahme aus der Jealousy Bar.

»Ich weiß«, sagte sie. »Nicht schön.«

Wie ein Schlafwandler schüttelte Smith den Kopf, ohne den Blick von der Leinwand abzuwenden.

»Sind Sie okay, Smith?«

»Nein«, sagte er langsam. »Ich bin nicht okay. Ich kann kein Blut sehen und keine Gewalt, und ich weiß wirklich nicht, ob ich noch mehr Leid aushalte. Diese Person … dieser Valentin Gjertsen, er … ich bin Psychologe, und er ist ein Fall, zu dem ich mich professionell zu verhalten versuche – ich fürchte nur, ich hasse ihn.«

»Keiner von uns ist so professionell, Smith. Ich würde mich von ein bisschen Hass nicht aus der Bahn werfen lassen. Fühlt es sich nicht gut an, jemanden hassen zu können, wie Harry das immer sagt?«

»Sagt Harry das?«

»Ja. Oder die Raga Rockers. Oder … wollten Sie irgendwas Bestimmtes?«

»Ich habe mit Mona Daa von der VG gesprochen.«

»Da haben wir noch jemanden, auf den sich unser Hass richten kann. Was wollte sie?«

»Ich habe sie angerufen.«

Katrine ließ ihre Papiere fallen.

»Ich habe ihr meine Bedingungen für ein Interview über Valentin Gjertsen erklärt«, sagte Smith. »Dass ich mich nur ganz allgemein über ihn äußern und die Ermittlungen mit keinem Wort erwähnen werde. Es soll ein sogenannter Podcast werden, ein Radioprogramm, das …«

»Ich weiß, was ein Podcast ist, Smith.«

»Egal, so können sie mich auf jeden Fall nicht falsch zitieren. Was ich sage, ist das, was gesendet wird. Ist das für Sie in Ordnung?«

Katrine dachte nach. »Meine erste Frage ist, warum

»Weil die Menschen Angst haben. Meine Frau hat Angst, meine Kinder haben Angst, die Nachbarn und die anderen Eltern an der Schule. Und deshalb ist es als wissenschaftlicher Experte auf diesem Gebiet meine Aufgabe, ihnen diese Angst ein bisschen zu nehmen.«

»Ist die Angst denn nicht berechtigt?«

»Lesen Sie keine Zeitung, Katrine? Im Laufe der letzten Woche sind hier in der Stadt Alarmsysteme und Zusatzschlösser komplett ausverkauft worden.«

»Jeder hat Angst vor dem, was er nicht versteht.«

»Es ist nicht nur das. Sie haben Angst, weil sie dachten, es mit einer Person zu tun zu haben, die ich anfänglich als einen reinen Vampiristen beschrieben habe. Ein krankes, verwirrtes Individuum, dessen Angriffe auf eine grundlegende Persönlichkeitsstörung und Paraphilien zurückzuführen sind. Aber dieses Monster ist ein kalter, zynischer und berechnender Krieger, der zu äußerst rationalen Überlegungen fähig ist und sich zurückzieht, wenn dies nötig ist. Wie in dem türkischen Bad. Und der angreift, wenn er kann, wie … wie auf dem Bild da.« Smith schloss die Augen und sah weg. »Ich gebe gerne zu, dass ich selber auch Angst habe. Letzte Nacht habe ich die ganze Zeit wach gelegen und darüber nachgegrübelt, wie diese Morde von ein und derselben Person begangen werden konnten. Wie das überhaupt möglich ist! Wie ich mich derart geirrt haben kann? Ich verstehe das nicht. Aber ich muss das verstehen, niemand hat bessere Voraussetzungen dazu als ich, ich bin der Einzige, der ihnen dieses Monster erklären und zeigen kann. Denn wenn die Menschen das Monster gesehen haben, können sie besser mit ihrer Angst umgehen, sie verstehen. Dann spüren sie, dass sie vernünftigen Verhaltensmaßregeln folgen können, und das gibt ­ihnen Sicherheit.«

Katrine stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich das alles richtig verstanden habe. Sie verstehen selbst nicht, was Valentin Gjertsen ist, wollen ihn den Leuten da draußen aber erklären, damit sie mit ihrer Angst leben können?«

»Ja.«

»Lügen, um sie zu beruhigen?«

»Ich denke, ich kann es schaffen, mich mehr auf das Zweite zu konzentrieren. Habe ich Ihren Segen?«

Katrine biss sich auf die Unterlippe. »Sie haben schon recht, als Wissenschaftler haben Sie eine Art Informationspflicht, und es ist sicher gut, wenn die Menschen ein wenig beruhigt werden. Solange Sie nicht auf die Ermittlungen eingehen.«

»Natürlich nicht.«

»Wir können kein weiteres Leck brauchen. Ich bin die Einzige in diesem Dezernat, die weiß, was Aurora in diesem Moment tut. Nicht einmal der Polizeipräsident ist informiert.«

»Ehrenwort.«

»Ist er das? Aurora, ist er das?«

»Papa, du nervst.«

»Aune, vielleicht sollten Sie und ich uns einen Moment nach draußen setzen, damit die beiden in Ruhe weitermachen können.«

»In Ruhe? Das ist meine Tochter, Kommissar Wyller, und sie will …«

»Tu, was er sagt, Papa. Mir geht es gut.«

»Ja? Sicher?«

»Ganz sicher.« Aurora wandte sich der Frau von der Bank und dem Mann vom Raubdezernat zu. »Das ist er nicht, spulen Sie vor.«

Ståle Aune stand auf, vielleicht war es die schnelle Bewegung, die ihn schwindelig werden ließ, vielleicht auch die Tatsache, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Und gegessen hatte er auch nichts. Außerdem starrten sie jetzt schon seit drei Stunden auf diesen Bildschirm.

»Wenn Sie sich hier aufs Sofa setzen, schaue ich mal, ob ich ­irgendwo einen Kaffee für uns auftreiben kann«, sagte Wyller.

Ståle Aune nickte nur.

Wyller ging, und Ståle blieb sitzen und beobachtete seine Tochter, die hinter der Glaswand Zeichen gab, wenn die Aufnahme vorgespult, angehalten und wieder zurückgespult werden sollte. Er hatte sie schon lange nicht mehr so engagiert gesehen. Sehr lange. Vielleicht waren seine Reaktion und seine Sorge übertrieben. Möglicherweise war das Schlimmste überstanden, vielleicht war sie auf ihre Weise darüber hinweggekommen, während er und Ingrid glücklich unwissend gewesen waren.

Sein kleines Mädchen hatte ihm im Stile eines Psychologie­dozenten, der einem Studierenden im ersten Semester etwas klarzumachen versucht, erklärt, was es heißt, wenn man jemandem das Versprechen zu schweigen abnimmt. Und dass sie Harry dieses Versprechen abgenommen und er es erst gebrochen hatte, als ihm bewusst geworden war, dass er dadurch Menschenleben retten konnte. Auch Ståle würde mit seiner Schweigepflicht nicht anders umgehen. Aurora hatte überlebt. Ståle hatte in der letzten Zeit immer wieder über den Tod nachdenken müssen. Nicht über seinen Tod, sondern über die Tatsache, dass auch seine Tochter eines Tages sterben würde. Warum war dieser Gedanke so unerträglich für ihn? Und würde er das anders sehen, wenn er und Ingrid irgendwann Großeltern waren? Die menschliche Psyche war den biologischen Mechanismen ebenso unterworfen wie die Physis, und der Drang, seine Gene weiterzugeben, war vermutlich eine Voraussetzung für das Überleben einer Art. Er hatte Harry vor langer Zeit einmal gefragt, ob er sich nicht ein Kind wünschte, das auch biologisch sein eigenes war, aber Harrys Antwort war mehr als deutlich gewesen. Er habe kein Gen für das Glück, wohl aber eins für Alkoholismus, und das verdiene niemand. Es war möglich, dass er seine Meinung mittlerweile geändert hatte. In den letzten Jahren war auf jeden Fall deutlich geworden, dass auch Harry Glück empfinden konnte. Ståle griff zu seinem Handy. Er wollte ihn anrufen und ihm sagen, dass er ein guter Mann war, ein guter Freund, Vater und Ehemann. Okay, es hörte sich an wie ein Zitat aus einer Todesanzeige, aber das musste er verkraften. Und dass er sich irrte, wenn er glaubte, sein zwanghafter Drang, Mörder zu jagen, sei vergleichbar mit seinem Alkoholismus. Was ihn antrieb, war keine Flucht, sondern der Instinkt des Rudeltieres, auch wenn der Individualist Harry Hole das niemals eingestehen würde. Es war der gute Instinkt, voller Moral und Verantwortung für die Gemeinschaft. Harry würde sicher nur lachen, aber das wollte Ståle seinem Freund sagen, wenn er denn irgendwann an sein verfluchtes Handy ging.