Hatten sie es geschafft? Vielleicht. Aber irgendwie fühlte es sich wie früher an, wenn er mit Vater in den Bergen war und müde und erschöpft glaubte, dass sie endlich den Gipfel erreicht hatten, nur um oben zu erkennen, dass hinter dem Gipfel noch ein höherer Gipfel wartete.
Mikael Bellman schloss die Augen.
Es war genau wie jetzt. Er war müde. Konnte er innehalten, bleiben, wo er war? Sich hinlegen, den Wind spüren, die Heide, den sonnenwarmen Stein auf der Haut? Sagen, dass er nicht mehr weiterwollte? Plötzlich kam ihm in den Sinn, Ulla anzurufen und ihr genau das zu sagen. Wir bleiben hier.
Als Antwort auf seine seltsame Eingebung begann das Handy in seiner Jackentasche zu vibrieren. Natürlich, das konnte nur Ulla sein. Er nahm das Gespräch an.
»Ja?«
»Hier ist Katrine Bratt.«
»Ah, ja?«
»Ich wollte nur mitteilen, dass wir herausgefunden haben, unter welchem Namen Valentin Gjertsen sich versteckt.«
»Was?«
»Er hat im August Geld in der Oslo City abgehoben, und vor sechs Minuten ist es uns gelungen, ihn über die Bilder der Überwachungskamera zu identifizieren. Die Karte, die er benutzt hat, ist auf einen Alexander Dreyer ausgestellt, geboren 1972.«
»Und?«
»Und dieser Alexander Dreyer ist 2010 bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
»Und die Adresse? Haben wir eine Adresse?«
»Die haben wir. Delta ist verständigt. Sie sind auf dem Weg.«
»Sonst noch etwas?«
»Noch nicht. Gehe ich recht in der Annahme, dass du fortlaufend informiert werden willst?«
»Ja, fortlaufend.«
Er legte auf.
»Entschuldigung.« Es war der Kellner.
Bellman warf einen Blick auf die Rechnung, tippte einen viel höheren Betrag als ausgewiesen in das Kartenlesegerät und drückte auf »o. k.«. Dann stand er auf und stürmte nach draußen. Wenn er Valentin Gjertsen fasste, öffnete ihm das alle Türen.
Die Müdigkeit war wie weggeblasen.
John D. Steffens schaltete das Licht ein. Die Leuchtstoffröhren blinkten ein paar Sekunden, bis sie sich brummend stabilisierten und kaltes Licht in den Raum fiel.
Oleg blinzelte und hielt überrascht den Atem an. »Ist das alles Blut?« Seine Stimme hallte in dem kahlen Raum wider.
Steffens lächelte, während die Stahltür hinter ihm ins Schloss fiel. »Willkommen im Blutbad.«
Oleg lief ein Schauer über den Rücken. Es war kalt, und das bläuliche Licht, das von den weißen Fliesen reflektiert wurde, verstärkte den Eindruck, im Inneren eines Kühlschranks zu sein.
»Wie … wie viel ist das?«, fragte Oleg und folgte Steffens zwischen den Gängen mit den roten Plastiksäcken, die in vier Reihen übereinander an Metallständern hingen.
»Genug, um ein paar Tage zurechtzukommen, sollte Oslo von den Lakotas angegriffen werden«, sagte Steffens und kletterte über eine schmale Treppe ins Becken hinunter.
»Lakota?«
»Besser bekannt als Sioux«, sagte Steffens, legte die Hand um einen der Blutbeutel und drückte ihn zusammen. Oleg sah, wie das Blut an dieser Stelle heller wirkte. »Es ist ein Mythos, dass die Indianer, auf die der weiße Mann gestoßen ist, blutrünstig waren. Abgesehen vom Stamm der Lakota.«
»Ach ja?«, fragte Oleg. »Und wie ist es bei den Weißen? Ist der Blutdurst unter den Völkern nicht gleichmäßig verteilt?«
»Ich weiß, dass das heute in der Schule so gelehrt wird«, sagte Steffens. »Dass keiner besser, keiner schlechter ist. Aber glauben Sie mir, die Lakota waren besonders. Besser und schlechter. Sie waren die besten Krieger. Wenn die Appachen von den Cheyenne oder den Schwarzfußindianern angegriffen wurden, ließen sie ihre Krieger ausruhen und schickten Kinder und Alte, um die Angreifer zu besiegen. Aber wenn die Lakota kamen, schickten sie gar keinen. Dann begannen sie gleich, ihr Todeslied zu singen und auf einen raschen Tod zu hoffen. So weit die Legende.«
»Folter?«
»Besonders bei Kriegsgefangenen. Die haben sie nach und nach mit glühender Kohle verbrannt.« Steffens ging weiter in einen Bereich, in dem die Beutel dichter hingen und es dunkler war. »Und wenn die Gefangenen nicht mehr konnten, gönnten sie ihnen eine Pause, damit sie aßen und tranken, um die Marter noch ein oder zwei Tage verlängern zu können. Mitunter haben sie ihnen sogar Fleischstücke serviert, die sie ihren Opfern zuvor aus dem Körper geschnitten hatten.«
»Ist das wahr?«
»Tja, vermutlich ebenso wahr wie alle anderen historischen Dokumente auch. Ein Lakotakrieger mit dem Namen Mond hinter dem Himmel war berüchtigt dafür, das Blut aller Feinde zu trinken, die er getötet hatte. Was nicht stimmen kann, denn er soll unglaublich viele Menschen getötet haben, und wenn er das Blut all dieser Leute getrunken hätte, wäre er daran zugrunde gegangen. In großen Mengen ist Blut für uns nämlich giftig.«
»Wirklich?«
»Wegen des Eisengehalts. Man nimmt dann mehr auf, als man ausspülen kann. Aber dass er das Blut wenigstens einiger seiner Opfer getrunken hat, weiß ich.« Steffens blieb bei einem Blutbeutel stehen. »1871 wurde mein Ururgroßvater tot in dem Lakotalager gefunden, das von Mond hinter dem Himmel angeführt wurde. Ohne einen Tropfen Blut im Körper. Er war als Missionar in dieses Lager gegangen. Im Tagebuch meiner Großmutter steht, dass meine Ururgroßmutter nach dem Massaker an den Lakota 1890 am Wounded Knee dem Herrn gedankt hat. Apropos Mütter …«
»Ja?«
»Dieses Blut gehört Ihrer Mutter. Das heißt, jetzt gehört es mir.«
»Ich dachte, sie bekäme Blut?«
»Ihre Mutter hat einen sehr seltenen Bluttypus, Oleg.«
»Wirklich? Ich dachte, ihre Blutgruppe wäre ganz normal.«
»Oh, bei Blut geht es um so viel mehr als nur um die Blutgruppe, Oleg. Zum Glück hat sie Blutgruppe A, so dass ich eine gute Auswahl habe, was ich ihr geben kann.« Er machte eine weitläufige Geste mit der Hand. »Einfaches Blut, das ihr Körper dann in die goldenen Tropfen verwandelt, aus denen Rakel Faukes Blut besteht. Apropos Fauke, ich habe Sie nicht mit nach hier unten genommen, damit Sie mal etwas anderes machen, als am Krankenbett zu sitzen. Ich wollte Sie fragen, ob ich eine Blutprobe von Ihnen nehmen darf, um zu sehen, ob Sie das gleiche Blut produzieren wie Ihre Mutter.«
»Ich?« Oleg dachte nach. »Tja, wenn das jemandem helfen kann, warum nicht?«
»Es kann mir helfen, glauben Sie mir. Sind Sie bereit?«
»Jetzt? Sofort?«
Oleg sah den Blick des Oberarztes. Zögerte, wusste aber nicht, warum.
»Okay«, sagte er. »Mein Blut gehört Ihnen.«
»Gut.« Steffens steckte die Hand in die Tasche seines weißen Kittels und wandte sich Oleg zu, als eine lustige Melodie aus der anderen Tasche seines Kittels ertönte. In die Stirn des Arztes grub sich eine tiefe Falte.
»Ich dachte, hier unten wäre kein Empfang«, murmelte er verärgert und nahm das Handy aus der Tasche. Oleg bemerkte, wie das Licht des Displays sich auf Steffens’ Brillengläsern spiegelte. »Oh, der Anruf scheint aus dem Präsidium zu kommen.« Der Arzt legte das Handy ans Ohr. »Oberarzt John Doyle Steffens.«
Oleg hörte das leise Summen der anderen Stimme.
»Nein, Hauptkommissarin Bratt, ich habe Harry Hole heute noch nicht gesehen, und er war auch nicht hier, da bin ich mir ziemlich sicher. Es gibt aber auch noch andere Orte, wo man sein Telefon ausschalten muss. Vielleicht sitzt er ja in einem Flugzeug?« Steffens sah zu Oleg, der mit den Schultern zuckte. »Wir haben ihn gefunden? Ja, das habe ich verstanden, ich werde ihm das ausrichten, sollte er auftauchen. Darf ich fragen, wen Sie gefunden haben? Danke, ja, ich weiß, was Schweigepflicht ist. Ich dachte nur, es wäre für Hole ganz gut, wenn ich nicht in Rätseln sprechen müsste. Aber wenn Sie meinen, dass er versteht, um wen es sich handelt. Okay, dann richte ich ihm das genau so aus, wir haben ihn gefunden. Einen schönen Tag noch. Wiederhören, Frau Bratt.«