Выбрать главу

Steffens steckte das Telefon zurück in seine Tasche und bemerkte, dass Oleg seinen Ärmel hochgekrempelt hatte. Er griff den Arm des jungen Mannes und führte ihn mit schnellen Schritten zurück zu der Treppe, die aus dem Becken führte. »Danke, aber ich habe gerade auf dem Display gesehen, dass es schon viel später ist, als ich gedacht habe. Ein Patient wartet auf mich. Ihr Blut müssen wir dann ein andermal untersuchen, Fauke.«

Sivert Falkeid, der Leiter des Sondereinsatzkommandos Delta, saß hinten im Geländewagen und gab die letzten Befehle, während sie über den Trondheimsveien nach oben fuhren. Es waren acht Mann im Auto. Genauer gesagt, sieben Männer und eine Frau, die aber nicht zum Sondereinsatzkommando gehörte. Delta war zwar prinzipiell offen für beide Geschlechter, doch unter den hundert Bewerbern des laufenden Jahres war nicht eine Frau gewesen. Seit die Truppe bestand, hatte es nur fünf Bewerbungen von Frauen gegeben – die letzte Ende des letzten Jahrtausends –, von denen es jedoch keine durch das Nadelöhr geschafft hatte. Aber was hieß das schon, die Frau, die Falkeid gegen­übersaß, wirkte durchtrainiert und zäh. Vielleicht hätte sie eine Chance gehabt?

»Wir wissen also nicht, ob dieser Dreyer zu Hause ist?«, fragte Sivert Falkeid.

»Nur dass das noch einmal gesagt ist, es geht um Valentin Gjertsen, den Vampiristen.«

»Ich mach doch nur Witze, Bratt«, sagte Falkeid und grinste breit. »Hat er ein Handy, über das wir ihn anpeilen können?«

»Möglich, dass er eins hat, aber keines, das auf Dreyer oder Gjertsen registriert ist. Ist das ein Problem?«

Sivert Falkeid warf ihr einen Blick zu. Sie hatten den Bauplan des Hauses über das städtische Bauamt erhalten, es schien unkompliziert zu sein. Fünfundvierzig Quadratmeter in der ersten Etage. Keine Hintertür oder Kellertreppe, die direkt von der Wohnung zugänglich war. Nach Plan sollten vier Mann zur Eingangstür und zwei auf die Wiese hinter dem Haus, sollte er über den Balkon zu fliehen versuchen.

»Kein Problem«, sagte er.

»Gut«, erwiderte sie. »Gehen wir leise rein?«

Er lächelte, ihr Bergener Dialekt gefiel ihm. »Was schlagen Sie vor? Sollen wir ein Loch in die Balkontür schneiden, höflich die Schuhe abputzen und dann leise reingehen?«

»Nein, aber gibt es wirklich einen Grund, Schockgranaten oder so etwas einzusetzen? Sie müssen doch nur einen Mann festnehmen, der unbewaffnet ist und keine Ahnung hat, dass wir kommen. Außerdem gibt es für leises, unspektakuläres Auf­treten bessere Stilnoten.«

»Das mag ja sein«, sagte Falkeid, warf einen Blick auf das Navi und dann auf die Straße vor ihnen. »Aber wenn wir ihn überraschen, ist das Risiko, dass einem von uns oder ihm selbst etwas passiert, deutlich geringer. In neun von zehn Fällen sind die Betroffenen von dem Knall und dem Licht einer solchen Granate paralysiert, für wie hart sie sich auch halten. Ich glaube, wir ­haben durch diese Taktik einigen Leuten, die wir festnehmen sollten, das Leben gerettet. Und vielleicht auch einigen von uns. Außerdem haben wir diese Granaten nun einmal und sollten sie auch noch vor dem Verfallsdatum benutzen. Ganz zu schweigen davon, dass meine Jungs mal wieder ein bisschen Rock ’n’ Roll brauchen, in der letzten Zeit hatten wir zu viele Balladen.«

»Sie machen Witze, oder? Seid ihr wirklich solche Machos?«

Falkeid grinste und zuckte mit den Schultern.

»Wissen Sie was?« Bratt hatte sich vorgebeugt, ihre roten Lippen befeuchtet und die Stimme gesenkt. »Irgendwie gefällt mir das.«

Falkeid lachte. Er war glücklich verheiratet, doch wäre er das nicht, hätte er gegen ein Essen mit Katrine Bratt nichts einzuwenden gehabt. Er mochte ihre dunklen, gefährlichen Augen und ihr Bergener »R«, es erinnerte ihn immer irgendwie an das Knurren von Raubtieren.

»Noch eine Minute«, sagte er laut, und die sieben Männer klappten in einer beinahe synchronen Bewegung ihre Visiere ­herunter.

»Stimmt es, dass er eine Ruger Redhawk hat?«

»Die hat Harry Hole in dieser Kneipe gesehen, ja.«

»Ihr habt das gehört, Jungs.«

Sie nickten. Laut Information des Herstellers konnte das Plastik der neuen Visiere eine 9-mm-Kugel aufhalten, nicht aber die Geschosse einer großkalibrigen Redhawk. Falkeid schien das egal zu sein, falsche Sicherheit war eh trügerisch.

»Was, wenn er Widerstand leistet?«, fragte Bratt.

Falkeid räusperte sich. »Dann erschießen wir ihn.«

»Muss das sein?«

»Es wird im Nachhinein sicher den ein oder anderen klugen Kommentar dazu geben. Wir ziehen es aber vor, schon im Vorfeld klug zu sein und Leute zu erschießen, die auf uns schießen wollen. Die Lizenz dafür ist einer der Pluspunkte unseres Jobs. Sieht so aus, als wären wir da.«

Er stand am Fenster, bemerkte die beiden Fettflecke auf der Scheibe und ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Er sah niemanden, aber es waren Sirenen zu hören. Kein Grund zur ­Beunruhigung. Sirenen hörte man ja ständig. Menschen verbrannten, rutschten auf Badezimmerfliesen aus oder folterten ihre Lebensgefährten, und dann waren eben Sirenen zu hören. Nerviges, penetrantes Geheule, das ständig erforderte, dass man auf die Seite ging und Platz machte.

Auf der anderen Seite der Wand hatte jemand Sex. Mitten am Tag. Da wurde jemand betrogen. Ehepartner, Arbeitgeber, vermutlich beides.

Die Sirenen bohrten sich immer wieder durch die Stimmen aus dem Radio. Männer mit Uniformen, Autorität und Vorfahrt, aber ohne Sinn und Verstand. Sie wussten bloß, dass sie es eilig hatten und dass etwas Schreckliches passieren würde, wenn sie nicht rechtzeitig kamen.

Bombenalarm. Das war eine Sirene, die wirklich Bedeutung hatte. Die Musik des Jüngsten Gerichts. Ein verheißungsvoller Klang, bei dem sich alle Haare aufstellten. Erst recht, wenn man auf die Uhr sah und merkte, dass es nicht zwölf Uhr mittags war und der Alarm folglich kein Test sein konnte. Er selbst hätte Oslo exakt um zwölf Uhr angegriffen, dann würde niemand in die Bunker laufen, alle würden einfach dastehen und verwundert an den Himmel glotzen, um das seltsame Schauspiel zu beobachten. Oder in irgendeinem Hotelzimmer eine Nummer schieben, mit schlechtem Gewissen, dabei spürten sie ganz genau, dass sie nichts hätten anders machen können. Denn das können wir nicht, wir tun, was wir tun müssen, weil wir die sind, die wir sind. Die Vorstellung, uns allein mit unserem Willen dazu zwingen zu können, anders zu handeln, als wir aus uns heraus handeln würden, ist falsch. Ein Missverständnis. Es ist genau anders­herum, unsere Willenskraft vermag nur, unserer Natur zu folgen, auch wenn die Umstände es uns schwer machen. Eine Frau vergewaltigen, ihren Widerstand brechen oder umgehen, vor der Polizei und der Rache fliehen und sich Tag und Nacht verstecken: All diese Mühsal nimmt man auf sich, nur um mit dieser einen Frau zu schlafen.

Die Sirenen waren jetzt weiter entfernt. Die Liebenden nicht mehr zu hören.

Er versuchte sich zu erinnern, wie der Katastrophenalarm geklungen hatte, bei dem man auf Eilmeldungen im Radio achten sollte. Gab es den überhaupt noch? Als er klein gewesen war, hatte es eigentlich nur einen Radiosender gegeben, doch welchen musste man heute hören, um mitzubekommen, was so ungeheuer wichtig war, nicht aber wichtig genug, um die Menschen direkt in die Bunker zu schicken? Oder gab es einen Notfallplan, bei dem sie auf alle Sender zugreifen und mit einer Stimme verkünden konnten, dass es … ja was … zu spät war? Viel zu spät? Dass die Bunker geschlossen waren, die dich ohnehin nicht hätten retten können, da nichts dich retten konnte.

Dann konnte man nur noch die, die man liebte, um sich versammeln, Abschied nehmen und sterben. Er hatte gelernt, dass viele Menschen ihre Leben darauf ausrichteten, nicht allein zu sterben. Den wenigsten gelang das, aber welche Opfer waren sie bereit, in Kauf zu nehmen. All das nur, um nicht über die Klinge springen zu müssen, ohne von jemandem an der Hand gehalten zu werden? Nun. Er hatte ihre Hände gehalten. Wie viele waren es gewesen? Zwanzig? Dreißig? Trotzdem hatten sie nicht weniger entsetzt oder einsam ausgesehen. Nicht einmal diejenigen, die er geliebt hatte. Dass sie es nicht gelernt hatten, seine Liebe zu erwidern, war verständlich, aber trotzdem waren sie von Liebe umgeben gewesen. Er dachte an Marte Ruud. Er hätte sie besser behandeln sollen, hätte sich nicht gehenlassen dürfen. Hoffentlich hatte sie einen schnellen, schmerzfreien Tod gehabt.