Er hörte die Dusche auf der anderen Seite der Wand und stellte das Radio in seinem Telefon lauter.
»… wenn Vampiristen in Teilen der Fachliteratur als intelligent, aber frei von Anzeichen für mentale Leiden oder soziale Störungen beschrieben werden, erweckt das den Eindruck, als hätten wir es mit starken, gefährlichen Feinden zu tun. Das ist in unserem Fall nicht ganz richtig. Valentin Gjertsen entspricht eher dem sogenannten Sacramento-Vampir, also dem Vampiristen Richard Chase. Bei beiden finden wir schon in der Jugend mentale Störungen, Bettnässen, Brandstiftung, Impotenz. Beide hatten die Diagnose Paranoia und Schizophrenie. Chase ist den üblichen Weg gegangen, er hat Tierblut getrunken, sich Hühnerblut injiziert und ist davon krank geworden, während Valentin als Junge mehr davon besessen war, Katzen zu quälen. Auf dem Hof seines Großvaters hielt er junge Katzen in der Scheune versteckt, die er gequält hat, ohne dass ein Erwachsener das je mitbekommen hätte. Sowohl Valentin Gjertsen als auch Chase waren vollkommen besessen, nachdem sie das erste Mal als Vampiristen getötet hatten. Chase ermordete seine sieben Opfer im Laufe von nur wenigen Wochen. Und genau wie Gjertsen hat er die meisten Opfer in ihren eigenen Wohnungen ermordet. Er ist im Dezember 1977 durch Sacramento gelaufen und hat nach nicht verschlossenen Türen gesucht. Fand er eine, hat er das als Einladung verstanden, einzutreten, wie er später bei seiner Vernehmung ausgesagt hat. Eines seiner Opfer, Teresa Wallin, war im dritten Monat schwanger. Als Chase sie allein in ihrer Wohnung vorfand, schoss er dreimal auf sie, vergewaltigte die Leiche und stieß dabei mit einem Schlachtermesser auf sie ein, um ihr Blut zu trinken. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?«
Durchaus, dachte er. Aber was du nicht zu sagen wagst, ist, dass Richard Trenton Chase der Frau auch diverse Organe entnommen, ihr eine Brustwarze abgeschnitten und dann im Hinterhof Hundekot gesucht hat, den er ihr in den Mund gesteckt hat. Einmal hat er sogar den Penis eines Opfers als Strohhalm benutzt, um damit das Blut anderer Opfer zu trinken.
»Das sind aber noch nicht alle Übereinstimmungen. Genau wie Chase ist Valentin Gjertsen jetzt bald am Ende seines Wegs angekommen. Ich glaube eigentlich nicht, dass es weitere Opfer geben wird.«
»Was lässt Sie da so sicher sein, Smith? Sie arbeiten mit der Polizei zusammen, gibt es konkrete Spuren?«
»Was mich so sicher macht, hat nichts mit den Ermittlungen zu tun, auf die ich selbstverständlich nicht eingehen kann, weder direkt noch indirekt.«
»Warum also?«
Er hörte, wie Smith tief einatmete, und erinnerte sich, wie der unauffällige Psychologe sich bei ihren Sitzungen Notizen gemacht und interessiert nach seiner Kindheit gefragt hatte. Dem Bettnässen, seinen frühen sexuellen Erfahrungen, dem Wald, den er angezündet hatte. Ganz besonders hatte es ihm aber das Katzenangeln angetan, wie er es genannt hatte. Valentin hatte die alte Angel des Großvaters genommen, die Schnur über einen Balken geworfen, den Haken in das Kinn einer jungen Katze gestochen, um dann zuzusehen, wie die Katze in der Luft hing und sich verzweifelt zu befreien versuchte.
»Weil Valentin Gjertsen in keinerlei Weise besonders ist, außer vielleicht besonders böse. Er ist nicht strohdumm, aber auch nicht sonderlich intelligent. Und er hat nichts bewirkt. Etwas aufzubauen erfordert Kreativität, eine Vision. Etwas zu zerstören hingegen bedarf keiner Fähigkeiten, nur Blindheit. Was Gjertsen in den letzten Tagen davor bewahrt hat, gefasst zu werden, waren keine besonderen Tugenden, sondern schieres Glück. Solange er noch frei herumläuft, ist Valentin Gjertsen natürlich ein gefährlicher Mann, vor dem man sich hüten muss wie vor Hunden mit Schaum vor dem Maul. Aber ein Hund mit Tollwut wird sterben, und all seiner Bosheit zum Trotz ist Valentin Gjertsen nur – um die Worte Harry Holes zu zitieren – ein armseliger Perverser, der derart außer Kontrolle ist, dass er bald einen großen Fehler begehen wird.«
»Sie wollen die Menschen in Oslo also beruhigen …«
Er hörte ein Geräusch und schaltete den Podcast aus. Lauschte. Direkt vor der Eingangstür schlichen Füße über den Boden. Jemand konzentrierte sich auf etwas.
Vier Männer in schwarzen Delta-Uniformen standen an der Wohnungstür von Alexander Dreyer. Katrine Bratt wartete etwas entfernt auf dem Flur, beobachtete aber alles.
Einer der Männer hielt einen anderthalb Meter langen Rammbock in Form einer Pringles-Packung mit zwei Griffen.
Die vier Männer waren hinter ihren Visierhelmen nicht mehr auseinanderzuhalten. Sie ging aber davon aus, dass der Mann, der jetzt drei behandschuhte Finger in die Höhe streckte, Sivert Falkeid war.
In der Stille des Countdowns hörte sie die Musik aus der Nachbarwohnung. Pink Floyd? Sie hasste Pink Floyd. Obwohl hassen vielleicht das falsche Wort war, sie hatte nur ein tiefes Misstrauen Leuten gegenüber, die Pink Floyd liebten. Bjørn hatte gesagt, dass er nur einen einzigen Pink-Floyd-Song mochte. Und dann hatte er ein Album aus einer Zeit hervorgeholt, als sie noch klein gewesen waren, und auf dem war so etwas wie ein haariges Ohr zu erkennen. Was dann kam, war ein geradliniger Blues, unterlegt mit dem Heulen eines Hundes. Wie in einer TV-Show, wenn dem Produzenten die Ideen ausgegangen waren. Bjørn hatte nur gemeint, dass er jedem Song mit anständigem Bottleneck-Spiel volle Amnestie gewähre, und dass die Tatsache, dass doppelte Basstrommeln ebenso fehlten wie geröhrte Vokale oder die Huldigung schwarzer Mächte und von Würmern zerfressener Leichen – wie Katrine es liebte –, ein weiterer Pluspunkt sei. Sie vermisste Bjørn. Und ja, in dem Moment, in dem Falkeid den letzten Finger einzog, die Faust ballte und der Rammbock auf die Tür des Mannes zuraste, der im Laufe der letzten sieben Tage mindestens vier, wahrscheinlich aber fünf Menschen umgebracht hatte, dachte sie an den Mann, den sie verlassen hatte.
Es knallte, als das Schloss und die Tür aufbrachen. Der dritte Mann warf eine Flashbanggranate in die Wohnung, und Katrine hielt sich die Ohren zu. Als die Granate drinnen aufblendete, gefolgt von zwei weiteren ohrenbetäubenden Krachern, sah Katrine nur noch die Silhouette der Delta-Kollegen. Drei der Männer verschwanden mit automatischen MP5-Waffen an der Schulter in der Wohnung, während der vierte draußen stehen blieb und die Tür sicherte.
Sie nahm die Hände von den Ohren.
Die Flashbanggranate hatte Pink Floyd nicht gestoppt.
»Sicher!«, hörte sie Falkeids Stimme.
Der Polizist vor der Tür drehte sich zu Katrine um und nickte ihr zu.
Sie holte tief Luft und ging zur Tür.
Betrat die Wohnung. Es lag noch etwas Rauch von der Granate in der Luft, ansonsten war seltsam wenig zu riechen.
Der Flur. Das Wohnzimmer. Die Küche. Alles sah so normal aus. Als wohnte hier ein vollkommen durchschnittlicher, reinlicher Mensch, der Essen kochte, Kaffee trank, fernsah und Musik hörte. Von der Decke hingen keine Fleischerhaken herab, an der Tapete waren keine Blutspritzer, und die Wände waren auch nicht mit Zeitungsartikeln über die Morde oder mit Fotos der Opfer tapeziert.
Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, dass Aurora sich geirrt haben musste.
Sie sah durch die offene Tür ins Bad. Es war leer, kein Duschvorhang, keine Toilettenartikel, abgesehen von einem Gegenstand, der auf der Ablage unter dem Spiegel lag. Sie trat ein. Es war kein Toilettenartikel. Braunrot rostiges Metall mit Resten schwarzer Farbe. Die zusammengeklappten Zähne des Eisengebisses bildeten ein Zickzackmuster.
»Bratt!«
»Ja?« Katrine ging ins Wohnzimmer.
»Hier drinnen.« Falkeids Stimme kam aus dem Schlafzimmer. Sie klang ruhig, kontrolliert. Als wäre etwas vorbei. Katrine stieg über die Türschwelle und vermied es, die Tür zu berühren, als wüsste sie bereits sicher, dass sie an einem Tatort war. Die Schranktüren standen offen, und die Delta-Männer hatten ihre automatischen Waffen auf den nackten Körper gerichtet, der auf der Bettdecke lag und mit toten Augen nach oben starrte. Katrine konnte den Geruch, den sie wahrnahm, nicht gleich deuten und beugte sich vor. Lavendel.