»Ja«, sagte Liz, legte den Kopf schief und musterte ihre Freundin. »Du nicht.«
»Echt? Habe ich abgenommen?«
»Nein, und eigentlich ist das ein bisschen irritierend. Aber du lächelst nicht mehr.«
»Ich lächle nicht mehr?«
»Du lächelst, aber nicht wirklich. Nicht wie Ulla aus Manglerud.«
Ulla schüttelte langsam den Kopf. »Wir sind umgezogen.«
»Ja klar, du hast jetzt Mann und Kinder und ein eigenes Haus. Aber das ist ein schlechter Tausch für ein Lächeln, Ulla. Was ist passiert?«
»Tja, was ist passiert?« Sie lächelte Liz an und trank einen Schluck. Sah sich um. Das Durchschnittsalter war etwa das ihre, aber sie sah keine bekannten Gesichter. Manglerud war gewachsen, es waren neue Leute zugezogen, andere verschwunden, und einige waren sicher auch gestorben oder hockten nur noch zu Hause. Tot und verschwunden.
»Soll ich’s sagen, oder wäre das unverschämt?«, fragte Liz.
»Nur zu.«
Rafferty war mit seinem Text am Ende, und Liz musste schreien, um das nachfolgende Saxophon zu übertönen. »Mikael Bellman aus Manglerud hat dir dein Lächeln genommen.«
»Das ist schon ziemlich unverschämt, Liz.«
»Ja, aber es stimmt, oder?«
Ulla hob ihr Weinglas an. »Ja, das stimmt wohl.«
»Ist er untreu?«
»Liz!«
»Das ist doch wohl kein Geheimnis …«
»Was ist kein Geheimnis?«
»Dass Mikael ein Schürzenjäger ist. Komm schon, Ulla. So naiv bist du nicht!«
Ulla seufzte. »Vielleicht nicht. Aber was soll ich machen?«
»Das Gleiche wie ich«, sagte Liz, nahm die Weißweinflasche aus dem Kühler und schenkte ihnen beiden nach. »Zahl es ihm mit gleicher Münze heim. Prost!«
Ulla spürte, dass sie langsam genug hatte und besser Wasser trinken sollte. »Ich habe es versucht, aber ich kann das nicht.«
»Dann versuch es noch einmal!«
»Und wofür soll das gut sein?«
»Das verstehst du erst, wenn du es getan hast. Nichts ist heilsamer für ein kaputtes Liebesleben zu Hause als ein extrem schlechter One-Night-Stand.«
Ulla lachte. »Es ist nicht der Sex, Liz.«
»Was dann?«
»Ich bin … ich bin … eifersüchtig.«
»Ulla Swart eifersüchtig? Es ist nicht möglich, so schön und eifersüchtig zu sein!«
»Doch, ich bin verdammt eifersüchtig«, protestierte Ulla. »Und das tut so verflucht weh! Ich will ihm das heimzahlen.«
»Und das musst du auch, Schwester! Fick ihn da, wo’s ihm weh tut … ich meine …« Sie prusteten vor Lachen den Wein durch die Gegend.
»Liz, du bist ja betrunken.«
»Betrunken und glücklich, Frau Polizeipräsidentin. Während du betrunken und unglücklich bist. Ruf ihn an!«
»Mikael anrufen? Jetzt?«
»Nicht Mikael, du Dummerchen! Den Glücklichen, der dich verführen darf.«
»Was? Nein, Liz!«
»Doch, ruf ihn an! Jetzt!« Liz zeigte auf die Telefonkabine hinten an der Wand. »Ruf ihn von da an, damit er alles hört! Ja, der Ort wäre genau passend.«
»Passend?«, fragte Ulla lachend und sah auf ihre Uhr. Sie musste bald gehen. »Warum?«
»Warum? Mein Gott, Ulla! Weil dein Mikael da drin damals diese Stine Mikaelsen gevögelt hat.«
»Was ist das?«, fragte Harry. Der Raum um ihn herum schwamm.
»Kamillentee!«, sagte Katrine.
»Die Musik«, brummte Harry in einem geborgten, kratzenden Wollpulli. Seine eigene Kleidung hing zum Trocknen im Bad, und noch durch die geschlossene Tür roch er den süßlichen Alkohol. Der Geruchssinn funktionierte also, warum wollten seine Augen dann nicht?
»Beach House. Hast du die noch nie gehört?«
»Weiß nicht«, sagte Harry. »Und genau das ist das Problem. Ich beginne Sachen zu vergessen.« Unter sich spürte er den groben Stoff der Tagesdecke, die über dem fast zwei Meter breiten, niedrigen Bett lag, das neben dem Schreibtisch, einem Stuhl und dem guten alten Hifi-Regal mit der einzelnen Kerze das einzige Möbelstück in der Wohnung war. Harry nahm an, dass sowohl der Pullover als auch die Anlage Bjørn Holm gehörten. Die Musik schien sich irgendwie durch den Raum zu bewegen. Harry hatte das schon einige wenige Male erlebt, wenn er an einer Alkoholvergiftung vorbeigeschrappt und wieder auf dem Weg an die Oberfläche war. Dass es Momente gab, in denen er sich fühlte wie frisch betrunken – das gute Gefühl –, und dass er auf dem Weg nach oben an all den Orten vorbeikam, die er auf dem Weg nach unten schon einmal besucht hatte.
»Das ist wohl so«, sagte Katrine. »Am Anfang haben wir alles, und dann verlieren wir, Stück für Stück. Stärke. Jugend. Zukunft. Die Menschen, die wir lieben …«
Harry versuchte sich zu erinnern, um was Bjørn ihn gebeten hatte, kriegte es aber nicht hin. Rakel. Oleg. Und als er die Tränen kommen spürte, wurden diese von einer unbändigen Wut verdrängt. Verdammt, natürlich verlieren wir all die, die wir festzuhalten versuchen. Das Schicksal verachtet uns, macht uns klein und jämmerlich. Wenn wir über die weinen, die wir verlieren, tun wir das nicht aus Mitgefühl, denn schließlich wissen wir, dass sie so endlich all ihre Schmerzen los sind. Wir weinen aus Selbstmitleid.
»Wo bist du, Harry?«
Er spürte ihre Hand auf seiner Stirn, als eine Windböe plötzlich gegen ein Fenster krachte. Draußen auf der Straße gab es einen Knall, irgendetwas war umgekippt. Er kam.
»Ich bin hier«, sagte er.
Der Raum schwamm. Er spürte nicht nur die Wärme ihrer Hand, sondern ihren ganzen Körper, der dicht neben ihm lag.
»Ich will als Erster sterben«, sagte er.
»Was?«
»Ich will sie nicht verlieren. Sie sollen mich verlieren. Sollen das einmal zu spüren bekommen.«
Ihr Lachen war weich und warm. »Du klaust mir meine Sätze, Harry.«
»Tue ich das?«
»Als ich in der Klinik war …«
»Ja?« Harry schloss die Augen, als ihre Hand sich unter seinen Nacken schob und ihre Finger dumpfe Stöße in sein Hirn schickten.
»Sie haben die Diagnose ständig geändert. Manisch-depressiv, Borderline, bipolar. Aber ein Wort stand in allen Berichten. Suizidal.«
»Hm.«
»Aber das geht vorbei.«
»Ja«, sagte Harry. »Und kommt wieder. Nicht wahr?«
Sie lachte. »Nichts ist für immer, das Leben ist per Definition vorübergehend und in ständiger Veränderung. Das macht es so schmerzhaft, aber auch so lebendig.«
»This too shall pass.«
»Wollen wir es hoffen. Weißt du was, Harry? Du und ich, wir sind uns ziemlich ähnlich. Wir sind für die Einsamkeit geschaffen. Sie zieht uns magisch an.«
»Weil wir uns von denen trennen, die wir lieben, meinst du?«
»Tun wir das?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich, wenn ich mich auf dieses hauchdünne Eis namens Glück begebe, eine solche Angst kriege, dass ich mir fast wünsche, es wäre alles schon vorbei und ich läge im Wasser.«
»Und deshalb fliehen wir vor denen, die wir lieben«, sagte Katrine. »Flüchten uns in Alkohol. Arbeit. Zufälligen Sex.«
Etwas, wozu wir zu gebrauchen sind, dachte Harry. Während sie verbluten.
»Wir können sie nicht retten«, sagte sie als Antwort auf seine Gedanken. »Und sie können uns nicht retten. Das können nur wir selbst.«
Harry spürte, wie die Matratze nachgab, und wusste, dass sie sich in seine Richtung gedreht hatte. Ihr warmer Atem strich über seine Wange.
»Du hattest sie in deinem Leben, Harry. Die große Liebe. Ihr beide hattet das. Und ich weiß nicht, auf wen von euch beiden ich eifersüchtiger war.«
Was war es nur, das ihn so empfindsam machte? Hatte er irgendwas genommen? Acid oder Ecstasy? Und wo hatte er das dann herbekommen? Er hatte keine Ahnung, der letzte Tag war ein einziges schwarzes Loch.
»Es heißt, man soll nicht im Voraus trauern«, sagte sie. »Aber wenn man weiß, dass vor einem nur noch Trauer liegt, ist die Vorbereitung der einzige Airbag, den man hat. Und die beste Vorbereitung ist es dann ja sicher, so zu leben, als wäre jeder Tag der letzte. Oder?«