Die Baroness – denn sie konnte nur von Riedesels Frau sein – schien ein wenig zu schwanken, obwohl dies auch vom Flackern des Feuers und dem Gedränge herrühren konnte. Ich berührte sie am Arm.
»Ich brauche frische Luft«, flüsterte ich ihr zu. »Kommt doch mit mir ins Freie.«
Die Ärzte steuerten jetzt zielsicher wie die Geier wieder auf das Bett zu, und das gälische Gemurmel wurde plötzlich durch einen grauenvollen Stöhnlaut Simon Frasers unterbrochen.
»Holt eine Kerze!«, sagte einer der Ärzte scharf und trat rasch an das Bett.
Die Baroness drückte ihre Augen fest zu, und ich sah, wie sich ihre Kehle bewegte, als sie schluckte. Ich ergriff ihre Hand und führte sie eilig hinaus.
Es dauerte zwar nicht lange, doch es kam uns wie eine Ewigkeit vor, bis die Männer mit gesenkten Köpfen ins Freie traten.
Vor der Hütte gab es einen kurzen, heftigen Streit, der zwar aus Respekt vor dem Toten mit leiser Stimme geführt wurde, aber dennoch hitzig war. Jamie hielt sich abseits, den Hut tief ins Gesicht gezogen, doch hin und wieder wandte sich einer der britischen Offiziere an ihn, um ihn nach seiner Meinung zu fragen.
Leutnant William Ransom, auch als Lord Ellesmere bekannt, hielt sich ebenfalls für sich, wie es sich in dieser Gesellschaft für einen rangniederen Offizier geziemte. Er beteiligte sich nicht an dem Streit, denn Frasers Tod schien ihn viel zu sehr schockiert zu haben. Ich fragte mich, ob es wohl das erste Mal gewesen war, dass er jemanden sterben sah, den er kannte – und begriff dann, was für ein idiotischer Gedanke dies war.
Doch der Tod auf dem Schlachtfeld, ganz gleich wie brutal, ist nicht dasselbe wie der Tod eines Freundes. Und Williams Aussehen nach war ihm Simon Fraser nicht nur ein Vorgesetzter, sondern zudem ein Freund gewesen.
Ganz mit diesen verstohlenen Beobachtungen beschäftigt, hatte ich dem eigentlichen Streitpunkt – nämlich der Frage nach Frasers unmittelbarer Beerdigung – nur sehr oberflächliche Beachtung geschenkt und erst recht keine Aufmerksamkeit für die beiden Mediziner übrig gehabt, die aus der Hütte gekommen waren und sich jetzt ein wenig abseits murmelnd unterhielten. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der eine in seine Tasche griff und dem anderen ein Bündel Tabak reichte, abwinkte, als sich dieser bedanken wollte, und sich abwandte. Doch was er sagte, erregte meine Aufmerksamkeit genauso abrupt, als wenn sein Kopf in Flammen aufgegangen wäre.
»Dann sehen wir uns nachher, Dr. Rawlings«, hatte er gesagt.
»Dr. Rawlings?«, sagte ich unwillkürlich, und der zweite Arzt wandte sich um.
»Ja, Ma’am?«, sagte er höflich, doch mit der Ausstrahlung eines erschöpften Mannes, der gegen das überwältigende Bedürfnis ankämpfte, der ganzen Welt zu sagen, dass sie zur Hölle fahren konnte. Dieser Impuls war mir nicht unbekannt, und er hatte mein Mitgefühl – doch jetzt, da ich ihn angesprochen hatte, blieb mir keine andere Wahl, als fortzufahren.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte ich und errötete ein wenig. »Ich habe nur Euren Namen mitbekommen, und er ist mir aufgefallen – ich habe einmal einen Dr. Rawlings gekannt.«
Mit der Wirkung dieser beiläufigen Bemerkung hatte ich nicht gerechnet. Seine Schultern richteten sich auf, und sein stumpfer Blick nahm etwas Wissbegieriges an.
»Wirklich? Wo denn?«
»Äh …« Im ersten Moment war ich ratlos, da ich Daniel Rawlings ja eigentlich nie begegnet war – obwohl ich durchaus das Gefühl hatte, ihn gut zu kennen –, und ich gewann etwas Zeit, indem ich fragte: »Sein Name war Daniel Rawlings. Ist das vielleicht ein Verwandter von Euch?«
Sein Gesicht erhellte sich, und er packte meinen Arm.
»Ja! Ja, er ist mein Bruder. Bitte sagt mir, Ma’am, wisst Ihr, wo er ist?«
Mir wurde ausgesprochen mulmig zumute. Ich wusste tatsächlich genau, wo sich Daniel Rawlings befand, doch sein Bruder würde es gewiss nicht gern hören. Doch mir blieb nichts anderes übrig; ich musste es ihm sagen.
»Ich bedaure sehr, Euch sagen zu müssen, dass er tot ist«, sagte ich, so sanft ich konnte. Ich bedeckte seine Hand mit der meinen und drückte zu, und wieder schnürte es mir die Kehle zu, als das Leuchten in seinen Augen erlosch.
Er blieb mehrere Atemzüge lang reglos stehen und blickte in die Ferne. Langsam jedoch richtete er seine Augen wieder auf mich, holte noch einmal tief Luft und presste die Lippen zusammen.
»Ich verstehe. Ich … hatte es schon befürchtet. Wie ist er … Wie ist es geschehen, wisst Ihr das?«
»Ja«, sagte ich hastig, weil ich sah, dass Oberst Grant eine Haltung annahm, die seinen bevorstehenden Aufbruch verkündete. »Aber es ist – eine lange Geschichte.«
»Ah.« Er sah, wohin ich blickte, und drehte ebenfalls den Kopf. Es kam Bewegung in die Männer, die sich die Röcke zurechtrückten und sich die Hüte aufsetzten, während sie einige abschließende Worte wechselten.
»Ich werde Euch finden«, versprach er, während er sich wieder zu mir umwandte. »Euer Mann – er ist der hochgewachsene schottische Rebell? Ich glaube, es hieß, er ist ein Verwandter des Generals?«
Ich sah, wie sein Blick kurz an mir vorüberhuschte, und meine Haut begann zu prickeln wie mit der Nadel gestochen. Rawlings hatte die Stirn sacht gerunzelt, und als hätte er es laut gesagt, wusste ich, dass sein Kopf bei dem Wort »Verwandter« eine Verbindung hergestellt hatte – und dass sein Blick auf William gerichtet war.
»Ja. Oberst Fraser«, sagte ich hastig und packte ihn am Ärmel, bevor er Jamie ansehen und seinen aufkeimenden Gedanken vollenden konnte.
Ich hatte in meiner Tasche umhergetastet, während wir uns unterhielten, und jetzt fand ich das zusammengefaltete Papierstück, das ich gesucht hatte. Ich zog es hervor, faltete es eilig auseinander und reichte es ihm. Noch waren schließlich Irrtümer möglich.
»Ist das die Handschrift Eures Bruders?«
Er nahm mir das Blatt ab und verschlang die kleine, ordentliche Handschrift mit einer Miene, in der sich Wissbegier, Hoffnung und Verzweiflung miteinander vermischten. Er schloss einen Moment die Augen, öffnete sie wieder und las – und las – das Rezept für das Durchfallmittel, als sei es die Heilige Schrift.
»Die Seite ist angebrannt«, sagte er und berührte den angesengten Rand. Seine Stimme war heiser. »Ist Daniel … bei einem Brand umgekommen?«
»Nein«, sagte ich. Mir blieb keine Zeit mehr; einer der britischen Offiziere stand ungeduldig hinter ihm und wartete. Ich berührte die Hand, in der er das Blatt hielt. »Behaltet es bitte. Und wenn es Euch gelingt, die Linien zu überqueren – ich denke, jetzt könnt Ihr das –, findet Ihr mich leicht in meinem Zelt in der Nähe des Geschützparks. Man … äh … man nennt mich die Weiße Hexe«, fügte ich zögernd hinzu. »Ihr könnt jeden fragen.«
Seine blutunterlaufenen Augen wurden groß, dann wieder kleiner, und er betrachtete mich genau. Doch es blieb keine Zeit für weitere Fragen; der Offizier trat jetzt vor und murmelte Rawlings etwas ins Ohr, ohne mich mehr als eines flüchtigen Blickes zu würdigen.
»Ja«, sagte Rawlings. »Ja, gewiss.« Er verneigte sich tief vor mir. »Euer Diener, Ma’am. Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet. Darf ich …?« Er hielt das Blatt hoch, und ich nickte.
»Ja, natürlich, bitte behaltet es.«
Der Offizier hatte sich abgewandt, um ein weiteres säumiges Mitglied seines Trupps zur Eile zu mahnen, und mit einem kurzen Blick auf seinen Rücken trat Dr. Rawlings dicht an mich heran und berührte meine Hand.
»Ich werde kommen«, sagte er leise. »Sobald ich kann. Danke.« Dann blickte er auf, und ich begriff, dass Jamie hinter mir stand und mich abholen wollte.
Er trat vor, nickte dem Arzt kurz zu und nahm meine Hand.
»Wo ist denn Euer Hut, Leutnant Ransom?«, hörte ich den Oberst mit leisem Tadel fragen, und zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten spürte ich, wie mir die Nackenhaare zu Berge standen. Nicht bei den Worten des Obersts, sondern bei der leisen Antwort.