Ich atmete, als wäre ich eine Meile weit gerannt, doch ich konnte atmen; meine Nase und mein Hals waren widerstandslos frei, und der Hals war nicht rau, nicht wund. Ich war in Schweiß gebadet, und meine Muskeln schmerzten, weil ich mich so sehr verkrampft hatte.
Zu meiner Linken hörte ich Stöhnen im Gebüsch. Sie haben ihn also nicht umgebracht, dachte ich dumpf. Ich sollte wohl einen Blick auf ihn werfen, ihm helfen. Ich wollte es nicht, wollte keinen Mann berühren oder sehen oder mich irgendwo in der Nähe eines Mannes aufhalten. Doch es spielte keine Rolle; ich konnte mich nicht bewegen.
Ich war nicht länger in den Klauen des Schreckens erstarrt; ich wusste, wo ich war und dass ich in Sicherheit war – mehr oder weniger. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich verharrte schwitzend und zitternd in der Hocke und lauschte.
Der Mann stöhnte noch ein paarmal auf, dann wälzte er sich herum, und es raschelte im Geäst.
»Oh, Mist«, murmelte er. Er lag schwer atmend still, bis er sich abrupt aufsetzte und »Oh, Mist!« ausrief – ich konnte nicht sagen, ob der Schmerz der Auslöser war oder er sich wieder daran erinnerte, dass man ihn ausgeraubt hatte. Leises Fluchen, ein Seufzer, Schweigen – dann ein Schreckensschrei, der mich wie ein Elektroschock ins Mark traf.
Wildes Rascheln, als sich der Mann aufrappelte – warum, warum, was war los? Er flüchtete knackend und krachend. Die Angst war ansteckend; am liebsten wäre ich mitgerannt, war auf den Beinen, das Herz im Hals, doch ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Der Idiot machte solchen Lärm, dass ich nichts hören konnte. Was zum Teufel war dort in der Dunkelheit unterwegs?
Ich sah mich um, weil es leise im trockenen Laub raschelte – und blieb um den Bruchteil einer Sekunde vor einem Herzinfarkt verschont, weil Rollos feuchte Nase meine Hand anstupste.
»Jesus H. Roosevelt Christ!«, rief ich aus und war erleichtert, meine Stimme zu hören. Raschelnde Schritte kamen durch das Laub auf mich zu.
»Oh, da bist du ja, Tante Claire.« Eine hochgewachsene Gestalt ragte vor mir auf, nicht mehr als ein Schatten in der Dunkelheit, und Ian berührte meinen Arm. »Geht es dir gut?« Seine Stimme hatte einen nervösen Unterton – guter Junge.
»Ja«, sagte ich ziemlich schwach, dann entschlossener: »Ja. Ich habe im Dunkeln die Orientierung verloren.«
»Oh.« Die hochgewachsene Gestalt entspannte sich. »Das habe ich mir schon gedacht. Denny Hunter ist zu mir gekommen und hat gesagt, du wolltest ein bisschen Schmalz ausfindig machen, doch du wärst nicht zurückgekommen, und er würde sich um dich sorgen. Also habe ich mich mit Rollo auf die Suche gemacht. Wer war denn der Kerl, den Rollo zu Tode erschreckt hat?«
»Ich weiß es nicht.« Da er von Schmalz sprach, sah ich mich nach meiner Tasse um. Sie lag leer und sauber auf dem Boden. Aus den Leckgeräuschen schloss ich, dass Rollo, nachdem er die Tasse geleert hatte, jetzt ordentlich die Blätter sauber leckte, auf die das Schmalz getropft war, als ich sie hatte fallen lassen. Unter den Umständen beschwerte ich mich wohl besser nicht.
Ian bückte sich und hob die Tasse auf.
»Komm zurück zum Feuer, Tante Claire. Ich besorge dir neues Schmalz.«
Ich widersprach ihm nicht und folgte ihm den Hang hinunter, ohne ernsthaft auf meine Umgebung zu achten. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, meine Gefühle in den Griff zu bekommen und das Gleichgewicht wiederzufinden.
Ich hatte das Wort »Flashback« in den Sechzigern in Boston flüchtig gehört. Vorher hatte man das Phänomen nicht so genannt, doch ich hatte davon gehört. Grabenschock hatte man im Ersten Weltkrieg dazu gesagt. Kriegsneurose im Zweiten. Es ist das, was geschieht, wenn man Dinge überlebt, die man niemals erleben dürfte, und dieses Bewusstsein dann nicht mit der Tatsache in Einklang bringen kann, dass man es geschafft hat.
Nun, das habe ich aber, sagte ich trotzig zu mir selbst. Also finde dich damit ab. Eine Sekunde lang fragte ich mich, mit wem ich eigentlich redete und ob ich ernsthaft im Begriff war, den Verstand zu verlieren.
Natürlich erinnerte ich mich an die Dinge, die mir zugestoßen waren, als man mich vor einigen Jahren entführt hatte. Es wäre mir zwar von Herzen lieber gewesen, wenn ich mich nicht mehr daran erinnert hätte, doch ich wusste genug über Psychologie, um keinen Versuch zur Verdrängung dieser Erinnerungen zu unternehmen. Wenn sie auftauchten, betrachtete ich sie sorgfältig, machte ein paar Atemübungen und steckte sie dann wieder dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Und dann ging ich zu Jamie. Im Lauf der Zeit stellte ich fest, dass mir nur noch gewisse Details im Gedächtnis blieben: die Ohrmuschel eines Toten, die im Licht der Morgensonne dunkelrot schimmerte und aussah wie ein exotischer Pilz; der Lichtblitz, den ich gesehen hatte, als mir Harley Boble die Nase brach; der nach Mais riechende Atem des jugendlichen Idioten, der versucht hatte, mich zu vergewaltigen. Das wabbelige Gewicht des Mannes, der es schließlich getan hatte. Der Rest verschwamm zum Glück mehr und mehr.
Auch ich hatte Albträume, selbst wenn mich Jamie normalerweise sofort weckte, wenn ich zu wimmern begann, und mich so fest in den Arm nahm, dass der Traum zersprang, mich festhielt und mir über das Haar strich, über den Rücken, mir im Halbschlaf etwas vorsummte, bis ich mich in seinen Frieden zurücksinken ließ und einschlief.
Das hier war anders.
Ian ging von Lagerfeuer zu Lagerfeuer, um etwas Schmalz aufzutreiben, und bekam schließlich eine kleine Dose, die noch einen Zentimeter Gänseschmalz mit Beinwell enthielt. Es war zwar schon ziemlich ranzig, doch Denny Hunter hatte ihm gesagt, wozu es benötigt wurde, daher ging er nicht davon aus, dass der Zustand des Schmiermittels eine Rolle spielen würde.
Der Zustand seiner Tante bereitete ihm schon größere Sorgen. Er wusste sehr gut, warum sie manchmal im Schlaf wie eine Grille zuckte oder aufstöhnte. Er hatte ihren Zustand gesehen, als sie sie von den Mistkerlen zurückgeholt hatten, und er wusste, was sie ihr angetan hatten. Das Blut stieg ihm in die Schläfen, als er an den Kampf zu ihrer Befreiung dachte.
Sie hatte nicht selbst Rache nehmen wollen, als sie sie gerettet hatten; er glaubte, dass dies vielleicht ein Fehler gewesen war, obwohl er verstand, dass sie eine Heilerin war und geschworen hatte, nicht zu töten. Doch manche Männer konnte man nur töten. Die Kirche wollte davon nichts wissen, außer wenn es im Krieg geschah. Doch die Mohawk verstanden es sehr wohl. Genau wie Onkel Jamie.
Und die Quäker …
Er stöhnte.
Vom Regen in die Traufe. Kaum hielt er das Schmalz in den Händen, als sich seine Schritte … nicht dem Hospitalzelt zuwandten, wo sich Denny mit ziemlicher Sicherheit aufhielt, sondern dem Zelt der Hunters. Er hätte sich zwar einreden können, dass er den Weg zum Hospitalzelt eingeschlagen hatte; es war nicht weit entfernt. Doch er hatte noch nie viel davon gehalten, sich selbst etwas vorzumachen.
Nicht zum ersten Mal fehlte ihm Brianna. Mit ihr konnte er über alles sprechen, und sie mit ihm – mehr, dachte er, als sie manchmal zu Roger Mac sagen konnte.
Er bekreuzigte sich mechanisch und murmelte: »Gum biodh iad sabhailte, a Dhìa.« Gott, gib, dass sie in Sicherheit sind.
Er fragte sich durchaus, was Roger ihm wohl jetzt geraten hätte. Er war ein stiller, gottesfürchtiger Mann, auch wenn er Presbyterianer war. Doch er war bei jenem nächtlichen Ritt dabei gewesen und hatte mitgeholfen, ohne hinterher ein Wort darüber zu verlieren.
Ian dachte kurz an Roger Macs zukünftige Gemeinde und daran, was die Leute wohl von diesem Bild ihres Predigers halten würden, doch dann schüttelte er den Kopf und ging weiter. All diese Fragen hielten ihn nur davon ab, darüber nachzudenken, was er sagen würde, wenn er sie sah, und das war zwecklos. Er wollte nur eines zu ihr sagen, und das war das Einzige, was er nicht sagen konnte, niemals.