Der Zelteingang war geschlossen, doch innen brannte eine Kerze. Er hüstelte höflich vor dem Zelt, und als Rollo erkannte, wo sie waren, wedelte er mit der Rute und stieß ein freudiges Wuff! aus.
Der Eingang wurde augenblicklich zurückgeschlagen, und da stand Rachel mit ihrem Flickzeug in der Hand. Sie blinzelte zwar in die Dunkelheit, doch sie lächelte schon; sie hatte den Hund gehört. Sie hatte ihre Haube abgesetzt, und ohne die Nadeln war ihr Haar eine wirre Masse.
»Rollo!«, sagte sie und bückte sich, um ihm die Ohren zu kratzen. »Und wie ich sehe, hast du deinen Freund auch mitgebracht.«
Ian lächelte und hielt ihr die kleine Dose entgegen.
»Ich bringe Euch Schmalz. Meine Tante sagt, Euer Bruder braucht es für seinen Hintern.« Eine Sekunde zu spät sammelte er sich wieder. »Ich meine – für einen Hintern.« Verlegenheit flammte in seiner Brust auf, doch er sprach gerade mit der einzigen Frau im Lager, für die ein Männerhintern ein völlig normaler Gesprächsgegenstand sein konnte. Nun, mit Ausnahme seiner Tante, verbesserte er sich. Oder der Huren vielleicht.
»Oh, das wird ihn freuen; ich danke dir.«
Sie streckte die Hand aus, um ihm die Dose abzunehmen, und ihre Finger streiften die seinen. Die Blechdose war mit Schmalz verschmiert und rutschte ihm aus der Hand; sie fiel zu Boden, und sie bückten sich beide, um sie aufzuheben. Sie richtete sich als Erste auf; ihr Haar streifte seine Wange; es war warm und roch nach ihr.
Ohne auch nur nachzudenken, nahm er ihr Gesicht in beide Hände und beugte sich zu ihr vor. Sah, wie ihre Augen aufblitzten und sich verdunkelten, und erlebte einen Herzschlag, zwei, des perfekten warmen Glücks, während seine Lippen auf den ihren ruhten, während sein Herz in ihren Händen lag.
Dann klatschte ihm eine dieser Hände gegen die Wange, und er stolperte zurück wie ein Betrunkener, der aus dem Schlaf aufgeschreckt wird.
»Was tust du denn da?«, flüsterte sie. Ihre Augen waren so groß wie Untertassen; sie war zurückgewichen und drückte sich an die Zeltwand, als wollte sie sich hindurchfallen lassen. »Das darfst du nicht!«
Er konnte die Worte nicht finden. Seine Sprachen kochten in seinem Kopf wie Eintopf, und er war stumm. Doch das erste Wort, das an die Oberfläche des Aufruhrs in seinen Kopf stieg, war gälisch.
»Mo chridhe«, sagte er, und zum ersten Mal, seit er sie berührt hatte, holte er wieder Luft. Als Nächstes kam Mohawk, aus tiefster Seele. Ich brauche dich. Und etwas verspätet tappte das Englische hinterher, die Sprache, in der man sich am besten entschuldigte. »Ich – es tut mir leid.«
Sie nickte ruckartig wie eine Marionette.
»Ja. Ich – ja.«
Er sollte gehen; sie hatte Angst. Das wusste er. Doch er wusste noch etwas. Es war nicht er, wovor sie Angst hatte. Langsam, langsam streckte er die Hand nach ihr aus, und seine Finger bewegten sich gegen seinen Willen, langsam, als wollte er eine Forelle beschwören.
Und nicht unerwartet, aber dennoch wie durch ein Wunder stahl sich ihre Hand zitternd auf die seine zu. Er berührte ihre Fingerspitzen, fand sie kalt. Die seinen hingegen waren warm; er würde sie wärmen … In seiner Vorstellung spürte er die Kühle ihrer Haut an der seinen, sah ihre festen Brustwarzen unter dem Stoff ihres Kleides und spürte das Gewicht ihrer kleinen, runden Brüste kalt in seinen Händen, den Druck ihrer Oberschenkel, kalt und fest unter seiner Hitze.
Er packte ihre Hand, zog sie wieder zu sich. Und sie kam, wie gelähmt, hilflos, von seiner Hitze angezogen.
»Das darfst du nicht«, flüsterte sie kaum hörbar. »Das dürfen wir nicht.«
Ihm dämmerte dumpf, dass er sie natürlich nicht einfach an sich reißen konnte, um mit ihr zur Erde zu sinken, ihre Kleider beiseitezuschieben und sie zu nehmen, obwohl es ihn mit jeder Faser seines Wesens genau danach verlangte. Doch dann kam ihm schwach die Erinnerung an die Zivilisation, und er klammerte sich daran fest. Im selben Moment ließ er schmerzhaft widerstrebend ihre Hand los.
»Nein, natürlich nicht«, sagte er in perfektem Englisch. »Natürlich dürfen wir das nicht.«
»Ich – du –« Sie schluckte und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Nicht wie um seinen Kuss abzuwischen, dachte er, sondern erstaunt. »Weißt du –« Sie hielt hilflos inne und starrte ihn an.
»Ich sorge mich nicht darum, ob du mich liebst«, sagte er und wusste, dass er die Wahrheit sagte. »Nicht jetzt. Ich sorge mich darum, dass es dich vielleicht das Leben kosten könnte.«
»Wie dreist von dir! Ich habe doch gar nicht gesagt, dass ich dich liebe.«
Da betrachtete er sie, und etwas bewegte sich in seiner Brust. Möglich, dass es Gelächter war. Möglich, dass es keines war.
»Das brauchst du auch gar nicht«, sagte er leise. »Ich bin ja kein Narr und du keine Närrin.«
Ihre Hand bewegte sich impulsiv auf ihn zu, und er wich ein winziges Stück zurück.
»Fass mich lieber nicht an, Herz«, warnte er, und sein Blick hing immer noch gebannt an ihren Augen, die jetzt die Farbe der Kresse unter fließendem Wasser hatten. »Denn wenn du es tust, nehme ich dich hier und jetzt. Und dann ist es zu spät für uns beide, aye?«
Ihre Hand schwebte in der Luft, und er konnte zwar sehen, dass sie es versuchte, doch sie konnte sie nicht zurückziehen.
Da wandte er sich von ihr ab und schritt in die Nacht hinaus. Seine Haut war so heiß, dass sich die Nachtluft in Dampf verwandelte, wenn sie ihn berührte.
Im ersten Moment stand Rachel stocksteif da und lauschte dem Hämmern ihres Herzens. Dann kam ihr ein anderes, rhythmisches Geräusch zu Bewusstsein, und als sie blinzelnd den Blick senkte, sah sie, dass Rollo das Schmalz aus der zu Boden gefallenen Dose bis auf den letzten Rest verputzt hatte und jetzt die leere Dose ausleckte.
»O Gott«, sagte sie und hielt sich die Hand vor den Mund, weil sie Angst hatte, dass es in Hysterie ausarten würde, wenn sie lachte. Der Hund blickte zu ihr auf, seine Augen gelb im Kerzenschein. Er leckte sich die Lippen und wedelte sacht mit der langen Rute.
»Was soll ich nur tun?«, sagte sie. »Du hast es gut; du kannst ihm den ganzen Tag hinterherjagen und in der Nacht sein Bett teilen, und niemand verliert ein Wort darüber.«
Sie setzte sich auf den Hocker, weil ihr die Knie versagten, und fasste in den dichten Nackenpelz des Hundes.
»Was meint er nur damit?«, fragte sie ihn. »›Ich sorge mich darum, dass es dich vielleicht das Leben kosten könnte.‹ Hält er mich vielleicht für eine dieser Närrinnen, die vor Liebe krank werden wie Abigail Miller? Nicht dass es ihr tatsächlich in den Sinn kommen würde, für irgendjemanden zu sterben, nicht einmal für ihren armen Ehemann.« Sie blickte auf den Hund hinunter und schüttelte seinen Pelz. »Und was denkt er sich dabei, diese alberne Gans zu küssen – verzeih mir meinen Mangel an Nächstenliebe, Herr, doch es nützt ja nichts, die Wahrheit zu ignorieren – und sich keine drei Stunden später vor mich hinzustellen und mich zu küssen? Sag mir das! Was denkt er sich dabei?«
Dann ließ sie den Hund los. Er leckte ihr höflich über die Hand, dann verschwand er lautlos durch den Zelteingang, zweifellos, um seinem unmöglichen Herrn von ihrer Frage zu berichten.
Sie sollte den Kaffee aufsetzen und das Abendessen zubereiten; Denny würde bald aus dem Lazarett zurückkehren, hungrig und durchgefroren. Doch sie blieb einfach weiter sitzen und starrte die Kerze an, während sie sich fragte, ob sie es wohl spüren würde, wenn sie mit der Hand hindurchfuhr.
Sie bezweifelte es. Ihr ganzer Körper war entflammt, als er sie berührt hatte, so plötzlich wie eine terpentingetränkte Fackel, und sie brannte immer noch. Ein Wunder, dass ihr Hemd nicht in Flammen aufging.
Sie wusste, was für ein Mensch er war. Er hatte ja kein Geheimnis daraus gemacht. Ein Mann, der mit der Gewalt lebte, der sie in sich trug.
»Und das habe ich ausgenutzt, als es mir so passte, nicht wahr?«, fragte sie die Kerze. So handelte man als Freund nicht. Sie hatte sich nicht damit zufriedengegeben, auf Gottes Gnade zu vertrauen, war nicht bereit gewesen, Seinen Willen hinzunehmen. Sie hatte nicht nur über die Gewalt hinweggesehen und sie sogar heraufbeschworen, sondern sie hatte Ian Murray an Leib und Seele in Gefahr gebracht. Nein, es nützte nichts, die Wahrheit zu ignorieren.