Grey sah von Mrs Woodcocks Veranda aus zu, wie die Rotröcke in endlosen Reihen zum Klang der Trommeln durch die Straßen zogen. Dottie hatte Angst gehabt, die Rebellen, die die Stadt verlassen mussten, könnten die Häuser in Brand stecken oder ihre britischen Gefangenen einfach umbringen.
»Unsinn«, hatte Grey darauf erwidert. »Sie sind englische Rebellen, keine Barbaren.« Dennoch hatte er seinerseits Uniform und Schwert angelegt, sich zwei Pistolen in den Gürtel gesteckt und vierundzwanzig Stunden auf der Veranda von Mrs Woodcocks Haus gesessen – bei Nacht mit einer Laterne. Hin und wieder war er an den Straßenrand getreten, um einen ihm bekannten Offizier anzusprechen und sowohl nach Neuigkeiten zur Lage zu fragen als auch sicherzugehen, dass das Haus unbehelligt blieb.
Am nächsten Tag kehrte er durch Straßen voller geschlossener Fensterläden zu seinem eigenen Haus zurück. Philadelphia verhielt sich feindselig, genau wie die umliegende Gegend. Dennoch verlief die Besetzung der Stadt friedlich – so friedlich, wie eine Einnahme durch das Militär nur sein kann. Der Kongress war bei Howes Herannahen geflohen und mit ihm viele der prominenten Rebellen, darunter auch Dr. Rush.
Und Percy Beauchamp.
Kapitel 72
Das Fest aller Heiligen
Lallybroch
20. Oktober 1980
Brianna hielt sich den Brief an die Nase und holte tief Luft. Sie war sicher, dass es nach all dieser Zeit eher Einbildung als ein tatsächlicher Geruch war, doch sie spürte immer noch ein schwaches Raucharoma auf den Seiten. Vielleicht war es ja auch eher ihre eigene Erinnerung als Einbildung; sie kannte die Luft in einem Wirtshaus, in der die Gerüche des Kaminfeuers und der Küche hingen, dazu Tabak und ein sanfter Biergeruch, der alles durchdrang.
Sie kam sich albern vor, wenn sie in Rogers Gegenwart an den Briefen roch, hatte es sich aber zur Angewohnheit gemacht, es zu tun, wenn sie sie allein noch einmal durchlas. Diesen Brief hatten sie gestern Abend geöffnet und ihn mehrmals gemeinsam gelesen und besprochen – doch jetzt hatte sie ihn noch einmal hervorgeholt, weil sie ihn gern festhalten und eine Weile mit ihren Eltern allein sein wollte.
Vielleicht war der Geruch ja tatsächlich da. Ihr war aufgefallen, dass man sich eigentlich nicht an Gerüche erinnert, jedenfalls nicht so wie an etwas, das man mit den Augen gesehen hat. Es ist nur so, dass man einen Geruch wiedererkennt, wenn man ihn noch einmal riecht – und er dann oft andere Erinnerungen mit sich bringt. Und hier saß sie nun an einem Herbsttag inmitten des Aromas von Äpfeln und Heidekraut, der staubigen Holzvertäfelung und des hohlen Geruchs nasser Steine – Annie MacDonald hatte gerade den Flur gewischt –, doch was sie sah, war der Schankraum eines Wirtshauses im achtzehnten Jahrhundert, und was sie roch, war Rauch.
1. November 1777
New York
Liebe Brianna et al.,
erinnerst Du Dich noch an Euren Schulausflug zur Wall Street? Ich sitze hier in einem Wirtshaus am Beginn der Wall Street, und es ist weder Bulle noch Bär in Sicht, von Börsentickern ganz zu schweigen. Dafür aber ein paar Ziegen und eine kleine Gruppe von Pfeifenrauchern, die unter einer großen, blattlosen Platane die Köpfe zusammengesteckt haben. Ich kann nicht sagen, ob es protestierende Loyalisten sind oder Rebellen, die öffentlich ihre nächsten Schachzüge vorbereiten (was übrigens sehr viel ungefährlicher ist, als es im Verborgenen zu tun, obwohl ich hoffe, dass Du nie in die Lage kommen wirst, dieses Wissen anwenden zu müssen), oder einfach nur Kauf- und Handelsleute. Jedenfalls kann ich sehen, dass sie irgendeinen Handel schließen; sie schütteln sich die Hände und tauschen vollgekritzelte Papierschnipsel aus. Es ist erstaunlich, wie die Wirtschaft in Kriegszeiten aufblüht; ich glaube, es liegt daran, dass die normalen Regeln – wie auch immer sie aussehen – außer Kraft gesetzt sind.
Das gilt übrigens auch größtenteils für das menschliche Verhalten. Daher die Flut an Kriegsromanzen und die Gründung so vieler großer Existenzen im Kielwasser des Krieges. Es erscheint mir sehr paradox – obwohl es vielleicht nur logisch ist (frag Roger doch bitte, ob es so etwas wie ein logisches Paradox gibt, ja?) –, dass ein Vorgang, der so viele Menschenleben und so viele Ressourcen kostet, zu einer solchen Explosion an Babys und Reichtümern führt.
Da ich vom Krieg spreche – wir leben alle noch und sind mehr oder weniger unversehrt. Dein Vater ist im Verlauf der ersten Schlacht von Saratoga (es gab zwei; sie waren beide sehr blutig) leicht verletzt worden, und ich musste ihm den Ringfinger der rechten Hand abnehmen – der ohnehin steif war, Du erinnerst Dich bestimmt. Das war natürlich traumatisch (für mich kaum weniger als für ihn, glaube ich), aber eigentlich keine Katastrophe. Die Hand ist sehr gut verheilt, und obwohl sie ihn immer noch schmerzt, ist sie viel beweglicher geworden, und ich glaube, er wird sie am Ende besser benutzen können als vorher.
Wir sind – verspätet – im Begriff, nach Schottland zu fahren, und zwar unter höchst merkwürdigen Umständen. Wir fahren morgen an Bord der HMS Ariadne und geben der Leiche des Brigadegenerals Simon Fraser das letzte Geleit. Ich bin dem Brigadier erst kurz vor seinem Tod begegnet – er lag schon im Sterben –, doch er war offenbar ein sehr guter Soldat, der bei seinen Männern ausgesprochen beliebt war. Der britische Kommandeur in Saratoga, John Burgoyne, hat als eine Art Fußnote der Kapitulationsverträge darum gebeten, dass Dein Vater (der ein Verwandter des Brigadiers ist und seinen Familiensitz in den Highlands kennt) seine Leiche mit nach Schottland nimmt, wie es sich der Brigadier gewünscht hat. Dies war – gelinde gesagt – eine unerwartete, aber höchst glückliche Fügung. Ich weiß nicht, wie wir es sonst geschafft hätten, egal, ob Dein Vater sagt, er hätte sich schon etwas einfallen lassen.
Die praktischen Umstände dieser Expedition sind ein wenig heikel, wie Du Dir denken kannst. Mr Kościuszko, den seine Freunde, zu denen auch Dein Vater zählt, »Kos« nennen – eigentlich nennen ihn alle »Kos«, weil niemand (außer Deinem Vater) seinen Namen aussprechen kann oder es auch nur versuchen will (Dein Vater mag ihn sehr, und das beruht auf Gegenseitigkeit) –, hat ihm seine Hilfe angeboten. Mit Unterstützung von General Burgoynes Butler (nimmt eigentlich jeder seinen Butler mit in den Krieg?), der ihm eine große Menge Bleifolie von leeren Weinflaschen zur Verfügung gestellt hat (eigentlich kann man General Burgoyne unter den Umständen keine Vorwürfe machen, weil er trinkt, wobei ich allgemein den Eindruck habe, dass auf beiden Seiten völlig ungeachtet der militärischen Situation hemmungslos gesoffen wird), hat er ein Wunderwerk der Ingenieurskunst bewerkstelligt: einen mit Blei ausgekleideten Sarg (unbedingt notwendig) mit abnehmbaren Rädern (nicht minder notwendig; das Ding muss fast eine Tonne wiegen – Dein Vater sagt, es sind nur sieben oder acht Zentner, doch da er nicht versucht hat, den Sarg hochzuheben, ist mir nicht klar, woher er das wissen will).
General Fraser hatte bereits etwa eine Woche im Grab gelegen und musste für den Transport exhumiert werden. Es war nicht schön, aber es hätte auch schlimmer sein können. Unter seinen Männern befanden sich etliche indianische Waldläufer, von denen ihn viele ebenfalls sehr geschätzt haben; einige von ihnen sind in Begleitung eines Medizinmanns zur Exhumierung gekommen (ich glaube jedenfalls, dass es ein Mann war, konnte es aber nicht mit Sicherheit sagen; die Person war kurz gewachsen und rund und trug eine Vogelmaske), der die Überreste intensiv mit brennendem Salbei und Duftgras eingeräuchert hat (was dem Geruch kaum abhelfen konnte, obwohl der Rauch einen sanften Schleier über die grauenvollen Aspekte der Situation gelegt hat) und eine Weile über ihm gesungen hat. Gern hätte ich Ian gefragt, was dort gesungen wurde, doch aufgrund einer Verkettung widriger Umstände, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, war er nicht dabei.