Er betrachtete sich stirnrunzelnd im Spiegel und zupfte gereizt an der Goldlitze seines Rockes, die an einigen Stellen dunkel angelaufen war. Er wusste, wie dies zu beheben war, doch der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich hinsetzte und mit einem uringetränkten Brotklumpen daran herumpolierte. So wie er General Sir William Howe kannte, bezweifelte er ohnehin, dass seine äußere Erscheinung die Art seines Empfangs beeinflussen würde, selbst wenn er in einer Sänfte vor Howes Hauptquartier aufgetaucht wäre und sich den Kopf in einen türkischen Turban gewickelt hätte. Es kam oft vor, dass Howe einen ganzen Monat lang weder badete noch seine Wäsche wechselte – und das nicht nur im Feld.
Dennoch. Es würde ein Armeearzt sein müssen, und Grey wollte die freie Auswahl haben. Bei diesem Gedanken verzog er das Gesicht. Er hatte schon viel zu viele Armeeärzte kennengelernt, und einige davon waren ihm unangenehm nah gekommen. Doch Howes Armee war Ende September in die Stadt gekommen. Jetzt war es fast Ende November, die Besatzung war Alltag geworden, und unter den Einwohnern schwelte der Groll.
Jene Ärzte, die die Rebellion unterstützten, hatten entweder die Stadt verlassen, oder sie wollten nichts mit einem britischen Offizier zu tun haben. Jene, die mit den Loyalisten sympathisierten, hätten ihm mit dem größten Vergnügen geholfen – er wurde oft zu den Empfängen der reichen Loyalisten der Stadt eingeladen und hatte auf diesem Weg auch ein oder zwei Ärzte kennengelernt, jedoch keinen, der einen guten Ruf als Chirurg hatte. Einer befasste sich vornehmlich mit Geschlechtskrankheiten, ein anderer war Geburtshelfer, und der dritte war eindeutig ein Quacksalber der schlimmsten Sorte.
Also würde er Howes Hauptquartier aufsuchen und dort um Hilfe bitten. Er konnte nicht länger warten; Henry hatte sich wacker gehalten, und mit dem kühleren Wetter schien er sogar wieder ein wenig aufzublühen. Besser, wenn es jetzt geschah, damit ihm ein wenig Gelegenheit zur Genesung blieb, bevor der Winter mit seiner Kälte und der schlechten Luft geschlossener Häuser kam.
Fertig herausgeputzt, schnallte er sich sein Schwert um und trat auf die Straße hinaus. Ein Soldat mit einem schweren Rucksack kam langsam auf ihn zu und ließ halb gebückt den Blick über die Häuser schweifen. Er würdigte den Mann kaum eines Blickes, während er die Treppe hinunterstieg – doch dieser flüchtige Blick genügte. Ungläubig schaute er noch einmal hin, und dann rannte er über die Straße, ohne weiter über seinen Hut, seine Goldlitze, sein Schwert oder seine Würde nachzudenken, und nahm den hochgewachsenen jungen Soldaten in die Arme.
»Willie!«
»Papa!«
Ihm ging auf höchst bemerkenswerte Art und Weise das Herz auf; er konnte sich kaum erinnern, je so glücklich gewesen zu sein, gab sich jedoch alle Mühe, dies für sich zu behalten, da er Willie nicht mit unmännlichen Gefühlsausbrüchen in Verlegenheit bringen wollte. Er ließ seinen Sohn nicht los, trat aber ein wenig zurück und betrachtete ihn von oben bis unten.
»Du bist … schmutzig«, sagte er und konnte sich das breite, törichte Grinsen nicht verkneifen. »Ausgesprochen schmutzig sogar.« Das stimmte. Außerdem war er völlig zerlumpt. Er trug zwar seine Offiziershalsberge noch, doch seine Halsbinde fehlte genauso wie mehrere Knöpfe, und an einem Ärmel war die Manschette vollständig abgerissen.
»Und Läuse habe ich auch«, versicherte ihm Willie und kratzte sich. »Hast du etwas zu essen für mich?«
»Ja, natürlich. Komm herein, komm herein.« Er nahm Willie den Rucksack von der Schulter und winkte ihm, ihm zu folgen. »Dottie! Komm herunter!«
»Ich bin unten«, sagte seine Nichte hinter ihm und trat aus dem Morgenzimmer, wo sie üblicherweise frühstückte. Sie hatte ein Stück gebutterten Toast in der Hand. »Was willst du – oh, Willie!«
Ohne sich um den Schmutz und die Läuse zu kümmern, nahm William sie in seine Arme, und sie ließ den Toast auf den Teppich fallen und drückte ihn lachend und weinend, bis er protestierte, dass sie ihm alle Rippen gebrochen hätte und er nie wieder in der Lage sein würde, normal zu atmen.
Grey beobachtete die Szene mit äußerstem Wohlwollen, obwohl die beiden den gebutterten Toast inzwischen vollständig in den gemieteten Teppich getreten hatten. Sie schienen sich tatsächlich zu lieben, dachte er. Vielleicht hatte er sich ja geirrt. Er hüstelte höflich, was zwar nicht ausreichte, um ihre Umarmung zu lösen, aber immerhin dazu führte, dass sich Dottie verständnislos nach ihm umsah.
»Ich gehe in die Küche und bestelle Frühstück für William, ja?«, sagte er. »Geh doch mit ihm in den Salon, meine Liebe, und gib ihm eine Tasse Tee.«
»Tee«, hauchte Willie, und sein Gesicht nahm die selige Miene eines Menschen an, der gerade ein erstaunliches Wunder mit ansieht – oder davon berichtet bekommt. »Ich habe seit Wochen keinen Tee mehr getrunken. Seit Monaten!«
Grey steuerte auf das Küchenhaus zu, das ein Stück vom eigentlichen Haus entfernt stand, damit Letzteres nicht zerstört wurde, wenn – nicht falls – irgendetwas Feuer fing und die Küche abbrannte. Jetzt wehten ihm köstliche Gerüche nach gebratenem Fleisch, eingekochtem Obst und frischem Brot aus dem wackeligen Bauwerk entgegen.
Er hatte Mrs Figg, eine nahezu kugelrunde Schwarze, als Köchin eingestellt, weil er davon ausgegangen war, dass sie nur zu einer solchen Figur gelangt sein konnte, weil sie gutes Essen sowohl zu schätzen als auch zuzubereiten wusste. Dies hatte sich als zutreffend herausgestellt, und nicht einmal das launische Temperament der Dame und ihre Vorliebe für unflätige Ausdrücke konnten ihn dazu bewegen, diese Entscheidung zu bedauern, obwohl er grundsätzlich mit Vorsicht auf sie zuging. Angesichts der Neuigkeiten stellte sie jedoch dienstbeflissen die Wildpastete beiseite, die sie gerade zubereitete, und richtete ein Teetablett her.
Er wartete, bis sie fertig war, um es selbst mit zurückzunehmen, weil er William und Dottie ein wenig Zeit unter vier Augen gönnen wollte. Er wollte alles hören – denn natürlich wusste jeder in Philadelphia von Burgoynes katastrophalem Stelldichein in Saratoga, doch er wollte vor allem von William hören, unter welchen Voraussetzungen oder Annahmen John Burgoyne dort angetreten war. Einigen seiner Militärbekanntschaften zufolge hatte Sir George Germain Burgoyne nämlich versichert, dass man seinen Plan gutgeheißen hatte und dass Howe nach Norden marschieren würde, um sich mit ihm zu verbinden und so die amerikanischen Kolonien in zwei Hälften zu zerteilen. Anderen Quellen zufolge – darunter auch einige von Howes Stabsoffizieren – hatte man Howe niemals von diesem Plan in Kenntnis gesetzt, geschweige denn, dass er ihm zugestimmt hätte.
War dies Arroganz und Voreiligkeit aufseiten Burgoynes gewesen, Sturköpfigkeit und Stolz aufseiten Howes, Idiotie und Inkompetenz aufseiten Germains – oder eine Kombination all dieser Möglichkeiten? Wenn man ihn gedrängt hätte, hätte er auf Letzteres gewettet, doch es interessierte ihn sehr zu erfahren, inwieweit Germain hinter der ganzen Sache steckte. Da Percy Beauchamp spurlos aus Philadelphia verschwunden war, würde jemand anders sein weiteres Verhalten beobachten müssen, und Arthur Norrington würde Grey wohl kaum über die Ergebnisse seiner Ermittlungen auf dem Laufenden halten.
Vorsichtig trug er das vollgeladene Tablett zurück und fand William in Hemdsärmeln auf dem Sofa vor. Er hatte das Haar lose auf den Schultern liegen und trank Tee.
Dottie saß auf dem Armsessel am Kamin. Sie hielt ihren Silberkamm auf dem Knie fest, und angesichts ihres Gesichtsausdrucks hätte Grey um ein Haar das Tablett fallen gelassen.
Sie wandte ihm verblüfft das Gesicht zu, als er eintrat, und ihre Miene war derart verständnislos, dass er begriff, dass sie ihn kaum wahrnahm. Dann bewegte sich etwas, und ihr Gesicht veränderte sich, als kehrte sie mit einem Wimpernschlag aus weiter Ferne zurück.