»Oh«, sagte sie, während sie sich erhob, und griff nach dem Tablett. »Das kannst du mir geben.«
Das tat er und ließ den Blick dabei verstohlen zwischen den beiden jungen Leuten hin- und herwandern. Tatsächlich, auch William sah merkwürdig aus. Warum?, fragte er sich. Noch vor wenigen Augenblicken waren sie aufgeregt, begeistert und überglücklich über die Anwesenheit des jeweils anderen gewesen. Jetzt war sie blass geworden, erbebte jedoch so sehr vor innerer Erregung, dass die Tassen auf den Untertassen klapperten, als sie den Tee einzuschenken begann. William war so rot, wie sie blass war, doch Grey war sich sicher, dass es keine sexuelle Erregung war. Er trug die Miene eines Mannes, der … Nein, halt. Es war sexuelle Erregung, dachte er fasziniert – er war schließlich damit vertraut und nahm sie bei Männern besonders wahr –, doch sie war nicht auf Dottie gerichtet. Ganz und gar nicht.
Was zum Teufel hecken die beiden aus?, dachte er. Doch er gab vor, ihre Zerstreutheit zu ignorieren, und nahm Platz, um ebenfalls Tee zu trinken und von Williams Erlebnissen zu hören.
Davon zu erzählen, ließ William ein wenig zur Ruhe kommen. Grey beobachtete, wie sich Williams Gesicht veränderte, während er – hin und wieder stockend – berichtete. Der Anblick versetzte ihm einen Stich. Stolz, ja, großer Stolz; William war jetzt ein Mann, ein Soldat, und zwar ein guter. Gleichzeitig bedauerte Grey im Stillen jedoch das Verschwinden der letzten Überreste von Williams Unschuld; man brauchte ihm nur flüchtig in die Augen zu blicken, um zu sehen, dass diese unwiderruflich dahin war.
Seine Berichte über Schlachten, Diplomatie und Indianer hatten auf Dottie genau die entgegengesetzte Wirkung, wie er sah. Statt sich beruhigt oder glücklich zu zeigen, wurde sie mit jeder Minute nervöser.
»Eigentlich hatte ich ja vor, Sir William Howe zu besuchen, aber ich glaube, ich gehe erst zu Henry«, sagte Grey schließlich. Er erhob sich und strich sich die Krümel von den Rockschößen. »Möchtest du mitkommen, Willie? Oder ihr beide vielleicht? Oder möchtest du dich lieber ausruhen?«
Sie wechselten einen Blick, bei dem sie beide solche Verschwörermienen trugen, dass er blinzelte. Willie hüstelte und erhob sich ebenfalls.
»Ja, Papa. Natürlich möchte ich Henry sehen. Aber Dottie hat mir gerade erzählt, wie ernst sein Zustand ist – und dass du vorhast, einen Armeearzt zu bitten, sich darum zu kümmern. Ich … habe nur gedacht … Ich kenne einen Armeearzt. Ein wirklich ausgezeichneter Mann. Sehr gebildet und sehr angenehm im Umgang – aber hurtig wie eine Schlange mit seiner Klinge«, fügte er eilig hinzu. Sein Gesicht hatte sich bei diesen Worten bemerkenswert verfärbt, und Grey betrachtete ihn fasziniert.
»Wirklich«, sagte Grey langsam. »Er klingt wie die Erhörung meiner Gebete. Wie lautet denn sein Name. Ich könnte Sir William bitten –«
»Oh, er hält sich nicht bei Sir William auf«, sagte Willie hastig.
»Oh, einer von Burgoynes Männern?« Burgoynes besiegte Soldaten waren – abgesehen von Ausnahmen wie William – nach Boston marschiert, um von dort nach England zu fahren. »Nun, natürlich würde ich ihn gern nehmen, aber ich bezweifle, dass wir ihn rechtzeitig aus Boston kommen lassen können, angesichts der Jahreszeit und der Wahrscheinlichkeit –«
»Nein, er ist nicht in Boston.« Wieder wechselte Willie einen dieser Blicke mit Dottie. Diesmal bemerkte sie, dass Grey sie beobachtete, wurde so rot wie die Rosen auf den Teetassen und blickte geschäftig auf ihre Zehen hinunter. William räusperte sich.
»Eigentlich ist er Arzt in der Kontinentalarmee. Aber Washingtons Armee hat ihr Winterquartier in Valley Forge aufgeschlagen – das ist nicht mehr als einen Tagesritt von hier entfernt. Er wird kommen, wenn ich ihn persönlich darum bitte, dessen bin ich mir sicher.«
»Ich verstehe«, sagte Grey, der rasch überlegte. Er war sich zwar sicher, dass er das alles nicht einmal ansatzweise verstand, doch zunächst einmal schien es tatsächlich die Erhörung seiner Gebete zu sein. Es würde kein Problem sein, Howe zu bitten, eine Eskorte und eine weiße Flagge für William zu organisieren und dafür zu sorgen, dass man den Arzt unbehelligt passieren ließ.
»Also schön«, sagte er kurz entschlossen. »Ich werde heute Nachmittag mit Sir William darüber sprechen.«
Dottie und William stießen identische Seufzer aus – vor Erleichterung? Was zum Teufel?, fragte er sich erneut.
»Also gut«, fuhr er fort. »Andererseits willst du dich doch sicher waschen und umziehen, Willie. Ich gehe jetzt zu Howe, und wir gehen dann heute Nachmittag zu Henry. Wie ist denn der Name dieses famosen Kontinentalarztes, damit ihm Sir William einen Pass ausstellen kann?«
»Hunter«, sagte Willie, und sein sonnenverbranntes Gesicht schien zu leuchten. »Denzell Hunter. Achte darauf, dass Sir William den Pass für zwei Personen ausstellt; Dr. Hunters Schwester ist seine rechte Hand – sie wird mitkommen müssen, weil er ihre Hilfe braucht.«
Kapitel 74
Ich seh etwas, was du nicht siehst
20. Dezember 1777
Edinburgh
Die gedruckte Type wurde plötzlich scharf, klar und schwarz, und ich stieß einen verblüfften Ausruf aus.
»Ah, dann sind wir also fast am Ziel?« Mr Lewis, der Brillenmacher, zwinkerte mich über seine eigene Brille hinweg an. »Versucht es hiermit.« Er nahm mir sanft die Probierbrille von der Nase und reichte mir eine andere. Ich setzte sie auf, betrachtete die Buchseite vor meiner Nase und hob den Kopf.
»Ich hatte ja keine Ahnung«, sagte ich ebenso erstaunt wie beglückt. Ich fühlte mich wie neugeboren; alles war frisch, scharf und deutlich. Ganz plötzlich war ich wieder in die halb vergessene Welt des Kleingedruckten eingetreten.
Jamie stand am Fenster der Werkstatt, ein Buch in der Hand und eine kleidsame, stahlumrandete rechteckige Brille auf der langen Nase. Diese verlieh ihm das höchst ungewohnte Aussehen eines Gelehrten, und im ersten Moment sah er aus wie ein distinguierter Fremder, bis er sich ins Zimmer wandte, um mich anzusehen. Durch die Brillengläser wirkten seine Augen leicht vergrößert. Er blickte darüber hinweg und lächelte, während er mich betrachtete.
»Sie gefällt mir«, sagte er beifällig. »Die runde Form passt zu deinem Gesicht, Sassenach.«
Ich war so von den neuen Details meiner Umgebung fasziniert, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen war, mich zu fragen, wie ich aussah. Neugierig stand ich auf und trat vor den kleinen Spiegel an der Wand, um hineinzublicken.
»Ach, du liebe Güte«, sagte ich und fuhr leicht zurück. Jamie lachte, und Mr Lewis lächelte nachsichtig.
»Sie steht Euch wirklich sehr gut, Ma’am«, sagte er.
»Nun, das mag ja sein«, sagte ich, während ich argwöhnisch das Spiegelbild einer Fremden beäugte. »Es ist im Moment nur ein ziemlicher Schock.« Natürlich hatte ich nicht vergessen, wie ich aussah. Ich hatte nur seit Monaten keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Abgesehen davon, dass ich regelmäßig meine Wäsche wechselte und darauf achtete, dass ich kein Grau trug, weil ich dann aussah, als hätte man mich stümperhaft einbalsamiert.
Heute trug ich Braun, ein offenes Jäckchen aus braunem Samt, der die Farbe reifer Rohrkolben hatte, mit einer schmalen goldenen Randeinfassung über meinem neuen Kleid – aus schwerer kaffeebrauner Seide mit einem eng anliegenden Mieder und drei spitzengesäumten Unterröcken, die am Knöchel hervorlugten. Wir würden zwar nicht lange in Edinburgh bleiben, da wir zusehen mussten, dass der Brigadier seine letzte Ruhestätte fand, und Jamie es nicht abwarten konnte, endlich die Highlands zu sehen – doch wir hatten hier geschäftlich zu tun. Jamie hatte entschlossen verkündet, dass wir nicht wie die Landstreicher auftreten könnten, und eine Näherin und einen Schneider rufen lassen, sobald wir in unserem Quartier eintrafen.