Ian war immer schon drahtig gewesen, selbst in Zeiten des Überflusses. Sehnig und zäh, und seine Knochen waren immer dicht unter seiner Haut zu sehen gewesen, genau wie die seines Sohnes. Jetzt …
»Kann sein, dass ich huste, aber ich zerbreche nicht«, versicherte er Jamie. Dann legte er Jamie die Arme um den Hals. Jamie umarmte ihn sehr sanft, doch dann wurde seine zurückhaltende Umarmung inniger, als er feststellte, dass Ian tatsächlich nicht zerbrach – und er schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Seine Arme fassten fester zu, als ob er unwillkürlich versuchte, Ian von dem Abgrund zurückzuhalten, der nur zu deutlich zu seinen Füßen gähnte.
All meine Knochen kann ich zählen. Das Bibelzitat stahl sich ungebeten in meinen Kopf. Es traf buchstäblich zu; unter dem Stoff seines Hemdes malten sich seine Rippen so deutlich ab, dass ich dort, wo sie sich mit den vorstehenden Wirbeln seines Rückgrats verbanden, die Gelenke sehen konnte.
»Wie lange?«, entfuhr es mir, an Jenny gewandt, die die Männer beobachtete. Auch in ihren Augen glänzten unvergossene Tränen. »Wie lange hat er es schon?«
Sie blinzelte und schluckte.
»Seit Jahren«, antwortete sie dann jedoch ruhig. »Er hat den Husten aus dem Tolbooth in Edinburgh mitgebracht und ist ihn nie wieder losgeworden. Aber im letzten Jahr ist es schlimmer geworden.«
Ich nickte. Ein chronischer Fall also, das war immerhin etwas. Die akute Form – die man »galoppierende Schwindsucht« nannte – hätte ihn innerhalb von Monaten dahingerafft.
Sie stellte mir dieselbe Frage wie ich ihr, doch mit einer anderen Bedeutung.
»Wie lange?«, sagte sie so leise, dass ich sie kaum hörte. »Wie lange hat er noch?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte ich genauso leise. »Aber … nicht mehr lange.«
Sie nickte; sie hatte es längst gewusst.
»Nur gut, dass ihr rechtzeitig gekommen seid«, sagte sie nüchtern.
Der jüngere Ian hatte den Blick nicht von seinem Vater abgewandt, seit wir das Zimmer betreten hatten. Der Schock war ihm deutlich anzusehen, doch er behielt sich fest im Griff.
»Pa«, sagte er, und seine Stimme war so heiser, dass ihm das Wort als ersticktes Krächzen entfuhr. Er räusperte sich heftig, wiederholte: »Pa«, und trat vor. Der ältere Ian sah seinen Sohn an, und sein Gesicht begann, vor Freude so zu leuchten, dass die Spuren der Krankheit und des Leidens verschwanden.
»O Ian«, sagte er und streckte die Arme aus. »Mein Junge!«
Es waren die Highlands. Und es waren Ian und Jenny. Was bedeutete, dass Dinge, um die andere aus Verwirrung oder um des lieben Friedens willen einen Bogen gemacht hätten, unverzüglich angesprochen wurden.
»Möglich, dass ich morgen sterbe; möglich, dass es noch ein Jahr dauert«, erklärte Ian unverblümt bei Marmeladenbroten und Tee, die man hastig aus der Küche herbeigezaubert hatte, um die erschöpften Reisenden bis zum Abendessen über Wasser zu halten. »Falls jemand wetten möchte, setze ich fünf gegen zwei darauf, dass es drei Monate werden. Obwohl ich nicht weiß, wie ich dann meinen Gewinn einstreichen soll.« Er grinste, und plötzlich lugte der alte Ian aus seinem Totenkopf hervor.
Unter den Erwachsenen machte ein Murmeln die Runde, in dem Gelächter mitschwang. Im Zimmer drängten sich viele Gesichter, denn der Ruf, der das Brot und die Marmelade zutage gefördert hatte, hatte auch sämtliche Einwohner Lallybrochs aus den Zimmern und Winkeln des Hauses geholt. Donnernd waren sie die Treppe heruntergepoltert, weil sie es kaum abwarten konnten, den verlorenen Sohn zu begrüßen und wieder aufzunehmen. Die Zuneigung seiner Familie hatte Ian beinahe umgeworfen. Und so unmittelbar nach dem Schock, seinen Vater zu sehen, hatte es ihm vollends die Sprache verschlagen, obwohl er unverwandt lächelte, total hilflos angesichts ihrer tausend Fragen und Ausrufe.
Jenny hatte ihn schließlich aus dem Tumult gerettet, indem sie ihn bei der Hand nahm und ihn entschlossen mit seinem Vater ins Wohnzimmer schob, um dann mit den anderen in den Flur zu gehen und den Aufruhr mit blitzenden Blicken und einem unmissverständlichen Wort zu beenden, bevor sie sie in Reih und Glied erneut hineinführte.
Der jüngere Jamie – Ians und Jennys Ältester und Jamies Namensvetter – lebte jetzt mit Frau und Kindern in Lallybroch, genau wie seine Schwester Maggie und ihre beiden Kinder – ihr Mann war Soldat. Jamie war auf dem Hof unterwegs, doch die Frauen setzten sich zu mir. Sämtliche Kinder drängten sich mit größter Neugier um Ian und stellten ihm so viele Fragen, dass diese in der Luft zusammenstießen und die Kinder sich zu streiten begannen, wer zuerst gefragt hatte und zuerst eine Antwort bekommen sollte.
Die Kinder hatten den Worten seines Vaters keine Beachtung geschenkt. Sie wussten schon, dass Opa im Sterben lag, und die Tatsache war uninteressant im Vergleich mit der Anwesenheit ihres faszinierenden neuen Onkels. Ein kleines Mädchen mit Stummelzöpfchen saß auf Ians Schoß und zeichnete seine Tätowierungen mit den Fingern nach. Hin und wieder landete einer davon versehentlich in seinem Mund, während er lächelnd, wenn auch zögernd schließlich die Fragen seiner wissbegierigen Nichten und Neffen beantwortete.
»Du hättest doch schreiben können«, sagte Jamie mit einem Hauch von Tadel zu Jenny.
»Das habe ich doch«, sagte sie mit einem ganz ähnlichen Unterton. »Vor einem Jahr, als der Verfall eingesetzt hat und wir begriffen haben, dass es mehr war als nur ein Husten. Da habe ich dich gebeten, uns Ian zu schicken, falls es möglich war.«
»Ah«, sagte Jamie bestürzt. »Wir müssen Fraser’s Ridge verlassen haben, bevor der Brief gekommen ist. Aber habe ich dir nicht letzten April geschrieben, dass wir kommen? Ich habe dir den Brief aus New Bern geschickt.«
»Wenn das stimmt, hat er uns nie erreicht. Kein Wunder angesichts der Blockade; wir sehen hier höchstens noch die Hälfte der Dinge, die wir sonst aus Amerika erhalten haben. Aber wenn ihr im März aufgebrochen seid, ist es eine lange Reise gewesen, oder?«
»Etwas länger, als ich erwartet hatte, aye«, sagte Jamie trocken. »Unterwegs gab es ein paar Zwischenfälle.«
»Das sehe ich.« Ohne jedes Zögern ergriff sie seine rechte Hand und betrachtete neugierig die Narbe und die dicht aneinanderliegenden Finger. Sie sah mich mit hochgezogener Augenbraue an, und ich nickte.
»Es – er ist verwundet worden, in Saratoga«, sagte ich mit dem merkwürdigen Gefühl, mich verteidigen zu müssen. »Ich musste es tun.«
»Es ist gut geworden«, sagte sie und bewegte ihm sanft die Finger. »Schmerzt es sehr, Jamie?«
»Es zieht in der Kälte. Sonst merke ich nichts davon.«
»Whisky!«, rief sie und fuhr plötzlich kerzengerade auf. »Da sitzt ihr nun völlig durchgefroren, und ich habe ganz vergessen – Robbie! Lauf in die Küche und hol die gute Flasche aus dem Regal über den Töpfen.« Ein schlaksiger Junge, der am Rand der Menschentraube rings um Ian stand, sah seine Großmutter widerstrebend an, doch als er den Nachdruck in ihrem Blick sah, schoss er gehorsam aus dem Zimmer.
Im Zimmer war es mehr als warm; dank des Torffeuers im Kamin und der vielen Menschen, die sich lachend unterhielten und Körperwärme abstrahlten, herrschten beinahe tropische Temperaturen. Doch jedes Mal, wenn ich Ian ansah, senkte sich Kälte auf mein Herz.
Er lag jetzt tief in seinen Sessel gelehnt und lächelte. Doch man sah ihm die Erschöpfung an der vornübergebeugten Haltung seiner knochigen Schultern an, an der Schwere seiner Augenlider, an der Anstrengung, die es ihn kostete, weiterzulächeln.
Ich wandte den Kopf ab und merkte dabei, dass Jenny mich beobachtete. Sofort schlug sie die Augen nieder, doch ich hatte Berechnung darin gesehen und Zweifel. Ja, wir würden reden müssen.
Sie schliefen warm in dieser ersten Nacht, zum Umfallen müde, dicht beieinander und von Lallybroch umarmt. Doch im Halbschlaf hörte Jamie den Wind. Er war in der Nacht zurückgekehrt, ein kaltes Stöhnen, das um die Traufen des Hauses fuhr.