Erst viele Tage später begriff er – mitten auf dem Ozean –, dass seine Mutter ihn einen Mann genannt hatte.
Kapitel 84
Zu meiner Rechten
Ian starb kurz nach dem Morgengrauen. Die Nacht war höllisch gewesen; Ian war ein Dutzend Mal nahe daran gewesen, in seinem eigenen Blut zu ertrinken. Mit aufgerissenen Augen hatte er nach Luft gerungen, sich krampfhaft emporgeworfen, Stücke seiner Lunge ausgespuckt. Das Bett sah aus, als hätte es dort ein Gemetzel gegeben, und das Zimmer roch nach dem Schweiß eines verzweifelten, vergeblichen Ringens, roch nach der Gegenwart des Todes.
Am Ende jedoch hatte Ian still gelegen. Seine schmale Brust hatte sich kaum bewegt, sein Atem ein leises Rasseln wie das Kratzen der Rosenzweige am Fenster.
Jamie hatte im Hintergrund gestanden, um Ians ältestem Sohn den Platz an seiner Seite zu überlassen. Jenny hatte die ganze Nacht an seiner anderen Seite gesessen und ihm das Blut abgewischt, den Krankenschweiß, all die verwesenden Flüssigkeiten, die Ians Körper vor ihren Augen zerfallen ließen. Doch als das Ende nahte, in der Dunkelheit, hatte Ian die rechte Hand ausgestreckt und »Jamie« geflüstert. Er hatte die Augen nicht geöffnet, doch alle hatten gewusst, welchen Jamie er meinte, und sein Sohn hatte stolpernd Platz gemacht, sodass sein Onkel die suchende Hand ergreifen konnte.
Ians knochige Finger hatten sich mit überraschender Kraft um die seinen geschlossen. Ian hatte etwas gemurmelt, zu leise, um es zu verstehen, und dann losgelassen – nicht das unwillkürliche Entkrampfen des Todes; er hatte schlicht losgelassen, er war fertig und hatte die Hand dann offen fallen gelassen, seinen Kindern entgegen.
Er sagte nichts mehr, sondern schien sich sinken zu lassen, zu schrumpfen, als ihm das Leben entwich und ihm der Atem versagte. Als sein letzter Atemzug kam, warteten sie dumpf und trostlos in Erwartung des nächsten, und erst nach einer vollen Minute des Schweigens begannen sie, einander verstohlen anzusehen, heimliche Blicke auf das verwüstete Bett zu werfen, auf die Stille in Ians Gesicht – und allmählich zu begreifen, dass es vorüber war.
Machte es Jenny etwas aus?, fragte er sich. Dass Ians letzte Worte an ihn gerichtet gewesen waren? Doch er glaubte es nicht; die einzige Gnade an einem Ende wie dem seines Schwagers war, dass Zeit zum Abschied geblieben war. Jamie wusste, dass Ian dafür gesorgt hatte, noch einmal allein mit jedem seiner Kinder zu sprechen. Sie zu trösten, so gut er konnte, ihnen vielleicht noch den einen oder anderen Rat zu erteilen, sie zumindest in dem Bewusstsein zurückzulassen, dass er sie liebte.
Er hatte neben Jenny gestanden, als Ian starb. Sie hatte aufgeseufzt und schien dann in sich zusammenzusinken, als hätte man ihr plötzlich die Eisenstange aus dem Rücken gezogen, die sie während des letzten Jahres gestützt hatte. Ihr Gesicht hatte kein Leid gezeigt, obwohl er wusste, dass es da war; in diesem einen Moment jedoch war sie einfach nur froh gewesen, dass es vorüber war – um Ians willen, um ihrer aller willen.
Also hatten sie gewiss in den Monaten, seit sie es wussten, Zeit gefunden, sie und Ian, einander zu sagen, was zu sagen war.
Was würde er unter solchen Umständen zu Claire sagen?, fragte er sich auf einmal. Wahrscheinlich das, was er ihr schon beim Abschied gesagt hatte. Ich liebe dich. Ich werde dich wiedersehen. Schließlich hätte er nicht gewusst, was dem noch hinzuzufügen gewesen wäre.
Er konnte nicht im Haus bleiben. Die Frauen hatten Ian gewaschen und ihn im Wohnzimmer aufgebahrt, und jetzt waren sie mit einer wütenden Koch- und Putzorgie befasst, denn das Ereignis begann schon, sich herumzusprechen, und die ersten Gäste kamen zur Totenwache.
In der Dämmerung hatte der Himmel Regen gespuckt, doch jetzt fiel keiner mehr. Er ging durch den Gemüsegarten und dann zum Obstgarten hinauf, wo er Jenny entdeckte. Er zögerte einen Moment, doch dann setzte er seinen Weg fort und nahm neben ihr auf der Bank Platz. Sie konnte ihn ja fortschicken, wenn sie allein sein wollte.
Doch das tat sie nicht; sie griff nach seiner Hand, und er umfasste die ihre, während er dachte, wie zierlich sie doch war, wie zerbrechlich.
»Ich möchte fort«, sagte sie ruhig.
»Das kann ich dir nachempfinden«, sagte er und warf einen Blick auf das Haus. Der Obstgarten war voller neuer Blätter, grün und frisch und glänzend vom Regen, doch irgendjemand würde sie gewiss bald finden. »Möchtest du ein bisschen am See spazieren gehen?«
»Nein, ich meine, ich möchte fort von hier. Aus Lallybroch, für immer.«
Das verblüffte ihn mehr als nur ein bisschen.
»Das meinst du doch nicht ernst«, sagte er schließlich vorsichtig. »Du stehst schließlich unter Schock. Du solltest nicht –«
Sie schüttelte den Kopf und hob die Hand an ihre Brust.
»Etwas ist in mir zerrissen, Jamie«, sagte sie leise. »Was auch immer es ist, das mich hier festgehalten hat – es bindet mich nicht mehr.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte es vermieden, zum Turm und dem Friedhof hinüberzublicken, als er aus dem Haus trat, weil er den Anblick des dunklen, feuchten Stücks blanker Erde nicht ertragen konnte. Doch jetzt blickte er bewusst hinüber und wies mit dem Kinn darauf.
»Du würdest Ian verlassen?«, fragte er.
Sie stieß einen leisen Kehllaut aus. Sie hatte die Hand noch auf der Brust liegen, und bei diesen Worten presste sie sie mit aller Kraft flach auf ihr Herz.
»Ian ist bei mir«, sagte sie und richtete sich auf, um dem frisch geschaufelten Grab die Stirn zu bieten. »Er wird mich nie verlassen und ich ihn auch nicht.« Dann wandte sie den Kopf und sah ihn an; ihre Augen waren rot, aber trocken.
»Dich wird er auch nie verlassen, Jamie«, sagte sie. »Das weißt du genauso gut wie ich.«
Da stiegen ihm die Tränen in die Augen, unerwartet, und er wandte das Gesicht ab.
»Das weiß ich, aye«, murmelte er und hoffte, dass es tatsächlich so war. Denn in diesem Moment war die Stelle in ihm, die gewöhnlich Ian gehörte, leer und hohl, und sie hallte wider wie eine Bodhran. Würde er zurückkommen?, fragte sich Jamie. Oder war Ian nur ein Stück weitergezogen, in einen anderen Teil seines Herzens, an eine Stelle, wo er noch nicht nachgesehen hatte? Er hoffte es – doch vorerst würde er sich nicht auf die Suche machen. Und er wusste, dass es aus Angst war, dass er womöglich nichts finden würde.
Gern hätte er das Thema gewechselt, um ihr Zeit und Raum zum Nachdenken zu lassen. Doch es war schwer, etwas zu finden, das nichts damit zu tun hatte, dass Ian tot war. Oder mit dem Tod im Allgemeinen. Alle Verluste sind eins, und jeder Verlust ist allgemein, ein einzelner Tod der Schlüssel zum Tor der Erinnerung.
»Als Pa gestorben ist«, sagte er plötzlich und überraschte sich selbst genauso wie sie. »Erzähl mir, was passiert ist.«
Er spürte, wie sie sich ihm zuwandte, um ihn anzusehen, doch er hielt die Augen auf seine Hände gerichtet und rieb sich langsam mit den Fingern der Linken über die breite rote Narbe, die ihm über die Rechte lief.
»Sie haben ihn heimgebracht«, begann sie schließlich. »Er hat in einem Wagen gelegen. Dougal MacKenzie hat sie begleitet. Er hat mir gesagt, dass Pa gesehen hat, wie sie dich ausgepeitscht haben, und dass er plötzlich zu Boden gefallen ist. Als sie ihn aufgehoben haben, war eine Seite seines Gesichtes vor Qual verzerrt, doch die andere war schlaff. Er konnte weder sprechen noch gehen, und so haben sie ihn fortgetragen und heimgebracht.«
Sie hielt inne und schluckte, den Blick auf den Turm und den Friedhof gerichtet.
»Ich habe einen Arzt geholt. Er hat Pa zur Ader gelassen, mehr als einmal, und Kräuter in einem kleinen Becken verbrannt und sie ihm unter der Nase geschwenkt. Er hat versucht, ihm Arznei zu verabreichen, aber Pa konnte nicht richtig schlucken. Ich habe ihm Wasser auf die Zunge getropft, aber das war alles.« Sie schüttelte den Kopf. »Er ist am nächsten Tag gestorben, gegen Mittag.«